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Das Olympische Bildungsmagazin

Vom Wert des Journalismus bei den Propagandaspielen in Tokio

Ich bin dann mal weg. Der nächste große Text, ähnlich lang wie dieser Riemen hier, kommt am Freitag aus Tokio. Und darauf freue ich mich sehr – auf den nächsten Text, weniger auf das Abenteuer in Nippon. Ich bin zwar gern in Tokio, doch diesmal ist alles anders, aber es muss dennoch sein, das versuche ich, Ihnen an dieser Stelle in 23.000 Zeichen und etwa 17 Minuten Lesezeit zu begründen. Hoffe, dass Sie so lange durchhalten.

Olympische Spiele in der Pandemie sind ein unkalkulierbares Risiko. Dennoch ziehen das Internationale Olympische Komitee (IOC), Japans Regierung und das Tokyo Organising Committee of the Olympic and Paralympic Games (TOCOG) das Projekt Corona Games durch – gegen den Willen der Mehrheit der japanischen Bevölkerung (dazu frische Zahlen). Doch in bestimmten Medien und von gewissen Journalisten wird der Supreme Leader des IOC, der den Personenkult pflegt, schon wieder in eine Art Heldenstatus versetzt. Er tut und macht nun wirklich alles für die Athleten, der Thomas Bach (FDP), der unermüdliche Diener am Weltfrieden. Am Freitag, zum Beispiel, macht er in Hiroshima alles für die Sportler, und ja, ein klitzekleines bisschen für den Friedensnobelpreis.

Und am Tag vor Hiroshima dies:

Kurzum: Sie tragen weiter dick auf. Sie kennen keine Grenzen. Sie sind schamlos. Sie briefen Reporter in ungezählten sogenannten Hintergrundgesprächen. Alles folgt einem großen Skript.

Licht am Ende des Tunnels. Sichere Spiele. Weltfrieden.

So Sachen.

Mir graut schon vor der Eröffnungsfeier. Es wird immer schlimmer. Das lässt sich eigentlich nur an der Seite von Holger Gertz ertragen, wie so oft bei Eröffnungsfeiern. Weiß gar nicht, ob er sich das antut. Würde mir aber gefallen.

Und dabei sind die Corona Games nur die Overtüre für die nächsten Propagandaspiele in einem halben Jahr in China, die Winterspiele 2022 bei Bachs Sportkameraden in Peking. Deren Büttel, als Reporter getarnte Geheimdienstler, dürfen seit Jahren sogar ungestraft in Lausanne im Palace Hotel des IOC Journalisten angreifen:

Lausanne 2015: Chinesischer Stasimann mit Medien-Akkreditierung schlägt Tibet-Protest nieder – und schlägt mir auf die Kamera.

Was besseres als „Fuck you“ fiel mir in dem Moment nicht ein. Was soll’s, war passend.

Machen wir uns nichts vor: Den Organisatoren der Spiele der XXXII. Olympiade bieten sich in Tokio, Dank Corona, ganz vortreffliche Möglichkeiten, lästigen Berichterstattern die Arbeit zu erschweren und Journalismus zu behindern. So kann die IOC-Propaganda besser wirken.

Täglich ist das derzeit an den abartigsten Beispielen und wahnwitzigsten Argumentationen und Verlautbarungen des IOC zu belegen (dazu habe ich einen Thread auf Twitter aufgemacht, der vier Wochen laufen wird: „Wider die IOC-Propaganda“). Nicht nur produzieren IOC-Firmen die TV-Bilder von den Corona Games selbst (dazu gleich etwas mehr und aus Japan mehrfach ausführlich mit vielen Hintergründen); nicht nur hat das IOC in den vergangenen Jahren weit mehr als eine halbe Milliarde Dollar in den hauseigenen Olympic Channel investiert; seit kurzem – von der Fachöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen – präsentiert das IOC seine Homepage ganz neu und in zwölf Sprachen. Zur gewaltig großen Truppe der Medien-Aufpasser und Content-Produzenten unter dem Dach der IOC Group kommen fürstlich bezahlte Spindoktoren und Propagandisten, sowie natürlich ein großer Teil der Rechteinhaber von Fernsehstationen, die Milliarden zahlen und weder dem IOC noch sich selbst die Pläne vermiesen wollen. Die Seppelts dieser Fernsehwelt hin oder her, derlei Recherche-Redaktionen sind nach wie vor Feigenblätter im TV- und Radio-Bereich, nur ein Bruchteil der Kosten für Sport und Produktionen geht in wirklich investigativen, aufklärerischen Journalismus.

Dies gleich mal vorweg, denn die Inszenierung dieser Corona Games wird eine neue Qualität haben. Leni Riefenstahl, Carl Diem (1936), Breschnews Propaganda-Abteilung (1980) und Hu Jintaos Genossen (2008) bekommen gewaltige Konkurrenz. Es werden, auch aber nicht nur wegen Corona, weitgehend inszenierte und damit künstliche Spiele.

Ich habe vor ein paar Tagen in einem Beitrag für Übermedien (abonniert die, es lohnt sich, ich mache es seit der ersten oder zweiten Stunde) damit angefangen, die Thematik zu skizzieren. Dieses Material wird hier nun erweitert und aktualisiert.

Inszenierung ist ein Kern der Corona Games. Ich werde in den nächsten Wochen oft und präziser darauf zurückkommen.

Berichterstattung 24/7 vom 15. Juli bis 10. August aus Tokio

In Tokio erlebe ich meine achten Sommerspiele. Traditionell, wie schon 2008, 2012 und 2016 in diesem Theater (auch wie im Winter 2010, 2014, 2018), werde ich morgen, dem Tag meiner Ankunft in der Olympiastadt, einen ausführlichen Rückblick auf irre, ergreifende, verlogene, hoffnungslose, atemraubende, verzweifelte, begeisternde, ermüdende und skurrile Momente aus Barcelona, Atlanta, Sydney, Athen, Peking, London und Rio veröffentlichen. In der Tradition von Peking, London und Rio will ich in den nächsten Wochen 24/7 hier berichten – inhaltlich allerdings (noch) besser, das muss schon sein. Wir werden zwar kaum mal wieder mehrere Hundert Kommentare unter Beiträgen haben, wie früher regelmäßig, die Diskussion hat sich längst aus Blogs in (andere) soziale Medien verschoben. Aber vielleicht können wir endlich mal wieder miteinander ins Gespräch kommen. Ich würde mich freuen.

Seit Wochen mache ich täglich einige Rundrufe, tausche mich mit Kollegen und Freunden aus, schicken uns gegenseitig hunderte von Dateien und kryptischen Nachrichten vom TOCOG, damit wir besser gewappnet sind, für das, was da kommt – und damit wir überhaupt reingelassen werden. Vorgestern, auf dem Weg zum BER zum zweiten obligatorischen PCR-Test für 89 Euro, habe ich mit Craig Lord telefoniert, mit dem ich schon 1991 mal nachts eine Runde im Panatheinaikon von Athen gelaufen bin, im Olympiastadion von 1896. Seine Webseite State of Swimming kann ich jedem nur wärmstens empfehlen, er ist die Nummer eins in den Pools dieser olympischen Welt und in Sachen FINA, wo inzwischen mein alter kuwaitischer Freund, der Co-Conspirator Husain Al-Musallam, die Macht übernommen hat und eine IOC-Mitgliedschaft anstrebt. Craig Lord twittert ebenfalls als StateOfSwimming, folgen Sie ihm. Jedenfalls, Craig Lord schätzt, dass er drei Wochen Arbeitszeit verloren hat wegen des bürokratisch-organisatorischen Chaos des TOCOG.

Drei Wochen? Könnte stimmen. Eher mehr. Und vor allem: die Nerven!

Wie alle freien Journalisten bin ich mein eigener COVID-19 Liaison Officer (CLO) und erfülle als solcher seit spätestens Ende Mai sich nahezu täglich ändernde Vorgaben. Ich habe auf Befehl des TOCOG ein gebuchtes preiswertes und für meine Arbeit perfekt zwischen IOC-Hotel und Olympiastadion gelegenes Hotel storniert (private Übernachtungen waren ohnehin nicht erlaubt, jedenfalls nicht in den ersten vierzehn Tagen) und gegen ein teureres und abgelegeneres Hotelzimmerchen getauscht, damit ich besser kontrolliert werden kann. Ich bin natürlich geimpft und versuche tausend andere Anforderungen zu erfüllen, um nach Tokio zu kommen. Sollte wohl klappen, der Flug nach Doha geht in wenigen Stunden.

The-Playbook-Press-V3

Es war ein organisatorisches Chaos, und das war durchaus gewollt. Es bleibt vielleicht ein organisatorisches Chaos, mal schauen.

Seit Wochen melden sich von überall Journalisten, die verzweifeln. Aus Holland, aus Belgien, aus Polen, aus Dänemark, aus den USA, Großbritannien, Spanien und sogar aus Sachsen und Schwaben: Sie verzweifeln an den Vorgaben des sogenannten Playbooks und deren vielfältigster Verästelungen, an den Drohungen der Organisatoren, die sich wenig kooperativ zeigen und vielen Journalisten Fragen gar nicht oder erst nach Wochen beantworten. Diese Reporter fliegen gewiss nicht zum Spaß nach Japan, niemand verlangt Sonderregeln. Allen sind die Risiken und Absurditäten bewusst. Olympia ist kein Tourismus, sondern ein Knochenjob, ziemlich brutal, wenn man es richtig macht.

Ich bin Überzeugungstäter und glaube tatsächlich daran, dass man die, nun ja, Berichterstattung aus Tokio nicht den TV-Partnern des IOC und den Heerscharen von Olympia-Propagandisten überlassen sollte. Wie gesagt, die IOC Group, alleiniger Besitzer der Spiele, produziert die TV-Bilder selbst: Das Weltsignal wird von der IOC-Firmengruppe Olympic Broadcasting Services (OBS) bereitgestellt und kontrolliert.

Hier mal ein Chart der IOC Group – ich werde da kommende Woche aktualisieren, wenn hoffentlich der Annual Report für 2020 vorliegt und überhaupt -, auch damit Sie wissen, was Sie in diesem Theater und im Magazin SPORT & POLITICS weiter so erwartet. So etwas finden Sie nirgends sonst – und dabei soll es bleiben.

IOC-Group-Maerz-2021

Beim Thema Fernsehen sind wir beim wichtigsten Grund, warum diese Spiele überhaupt stattfinden. Es hat viel mit Medien und Medienrechten zu tun und doch wenig mit Journalismus: Das IOC erwartet von seinen Finanziers aus der TV-Wirtschaft für Tokio etwa drei Milliarden Dollar. Hinzu kommt noch ein großer Batzen von den IOC-Sponsoren, zwischen einer halben und einer Milliarde dürfte sich das einpegeln. Es geht also um etwa vier Milliarden Dollar, genau werden wir es erst in einem Jahr nach Vorlage des Annual Reports für 2021 wissen. Was mich nicht davon abhält, in der kommenden Woche ausführlich die Finanzen der Corona Games und des IOC zu skizzieren – in der Tradition dieser Texte und weltexklusiver Dokumente:

Corona hin oder her: NBCUniversal, seit Jahrzehnten wichtigster Partner des IOC mit fast 20 Milliarden Dollar Überweisungen, und bis 2032 an vertraglich an den Olympiakonzern gebunden, meldet Rekordzahlen: Werbezeiten sind ausgebucht, NBC ist auf bestem Wege, gewaltigen Profit zu machen.

Die Herren der Ringe sind die Herren der Bilder. Sie verkaufen die Corona Games als Rettung der Menschheit. So wie IOC-Präsident Thomas Bach (FDP) seit Frühjahr 2020 das Mantra rezitiert, Olympia sei das Licht am Ende des dunklen Tunnels der Corona-Leiden. Sein Wort ist Befehl.

Herren der Bilder: Der Große Vorsitzende im IBC in Tokio mit Yiannis Exarchos (r.), CEO von OBS und Olympic Channel. (Foto: IOC/Greg Martin)

Inszenatorisch werden diese Spiele neue, äußerst fragwürdige Maßstäbe setzen. Die Bilder des IOC erzählen aber nur einen Teil der Geschichte. Auch deshalb ist es mir wichtig, dort zu sein, mein in vielen Jahren erarbeitetes Hintergrundwissen und die extrem eingeschränkten wenigen Möglichkeiten der Beobachtung und Kontaktaufnahme zu nutzen und in die Berichterstattung einfließen zu lassen.

Neulich rief mich ein Sportfunktionär an, ein ehemaliger Politiker, Protegé des IOC-Präsidenten. Es gab etwas zu klären. Der Mann war deshalb um gute Stimmung bemüht und säuselte mir ins Ohr: „Bleibt es dabei, fliegen Sie nach Tokio? Ich erinnere mich gern an unser letztes Gespräch dort. Lassen Sie uns das unbedingt fortsetzen!“

Ich fragte: „Was? Hat Ihnen Ihr Freund in Lausanne etwa eine VIP-Akkreditierung gegeben?“

Seine Antwort: „Sie wissen, doch, dass ich Senior Advisor des IOC bin.“

Ich hatte es nicht vergessen. Ich versuchte dennoch, dem Mann eine Kurzeinweisung in die strengen COVID-19-Vorsichtsmaßnahmen zu geben und in die eigentlich vorgesehenen Einschränkungen auch für seinesgleichen, den olympischen Funktionärsadel. Er hatte davon offenbar noch nichts gehört. Oder es interessierte ihn nicht, weil es ihn nicht interessieren musste.

In der Tat hatten der Senior Advisor und ich, vor Corona, eine lange, entspannte Unterhaltung in der Lounge des Grand Prince Hotels Takanawa, nahe der Shinagawa Station, mit Blick auf einen natürlich perfekt gepflegten japanischen Garten. Solche relaxten Momente sind das letzte, was mir im Zusammenhang mit den Sommerspielen in Tokio in den Sinn kommt. Es bleibt ein Irrsinn, diese Wettbewerbe zu veranstalten, und es ist klar, dass jeder, der dabei ist, Teil eines Superspreader-Events werden kann.

Mich wunderte die telefonische Einladung zum Treffen in Tokio aus zweierlei Gründen:

Erstens behaupten TOCOG und das IOC ständig, es sollen nur diejenigen Funktionäre und Offiziellen zu den Spielen kommen, die für den reibungslosen Ablauf unentbehrlich sind.

Zweitens gibt es einschneidend harte COVID-19-Countermeasures, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, und die sehen derlei Treffen nicht vor.

Sie erlauben im Grunde gar keine Treffen, schon gar nicht in den ersten 14 Tagen nach Ankunft in Tokio. Für diese Zeit verlangen die Organisatoren und die japanische Regierung die strikte Befolgung eines Activity Plans, der drei Wochen vor der Ankunft in Japan abzugeben war. Nur für wenige Sportstätten und Medienzentren ist der Zugang erlaubt; öffentliche Transportmittel, ja sogar kurze Spaziergänge außerhalb der zugewiesenen Hotels und der im Activity Plan genehmigten olympischen Orte sind strengstens untersagt.

Journalisten müssen sich über GPS tracken lassen. TOCOG schaut ganz genau hin, das wurde mehrfach energisch angekündigt. Zusätzlich verfolgen ausgefeilte Überwachungskamerasysteme und tausende Sicherheitskräfte jede Bewegung. Wer auf die Idee kommen sollte, die GPS-Funktion seines Handys auszuschalten, oder gar versucht, die maßgebliche olympische Online Check-in and Health report-App (OCHA) auszutricksen, muss mit sofortigen Konsequenzen rechnen. Bei kleinsten Abweichungen oder Vergehen droht der Entzug der Akkreditierung und damit die Abschiebung ins Heimatland.

Über die Akkreditierungskarte kann ohnehin seit vielen Jahren jede Bewegung von Journalisten nachvollzogen werden: An tausenden Kontrollpunkten wird das Kärtchen gescannt, das ergibt wunderbare Profile. Als einer von derzeit 14 weltweiten IOC-Sponsoren stellt der chinesische IT-Riese Alibaba die Olympic Cloud zur Verfügung. Alibaba. The Chinese Big Brother is watching you. Das gibt einen Vorgeschmack auf die Winterspiele in Peking, wo mit noch größeren Restriktionen zu rechnen ist.

Muss ich hinzufügen, dass ich den Datenschutz-Behauptungen von Olympia-Organisatoren misstraue?

Für das olympische Fußvolk dritter Klasse, die Non-Rightholders, die nichts zahlen, also Pressevertreter, sind die Hotels der Olympic Family gesperrt. Das IOC residiert in der frisch renovierten Luxusherberge The Okura Tokyo, Mitglied der Leading Hotels of the World.

Als einer von wenigen olympischen sportpolitischen Berichterstatter weltweit habe ich bei vergangenen Spielen stets eine gesonderte Akkreditierung für diese Hotels erhalten, wo IOC-Mitglieder und die Chefs der im Olympiaprogramm integrierten Sport-Weltverbände logieren. Die Lobbies dieser Hotels waren mein wichtigster Arbeitsplatz, ob in Vancouver, Peking, London, Sydney, Rio, völlig egal – ich habe mir ein Sesselchen mit Tisch und freiem Blickfeld gesucht, den Laptop aufgeklappt und den ersten Kaffee bestellt, in der Hoffnung, dass der diesmal weniger als zehn Euro kostet.

So war das immer bei den Spielen. Manchmal hat es sogar etwas gebracht: Beobachtungen, Geschichten, kleine Erkenntnisse – sowie viele, stundenlange intensive Gespräche mit zentralen Figuren dieses Geschäfts. Irgendetwas ergibt sich immer. Mitunter pinkelt man neben Prinzen und Königen, davon sind ja noch einige im IOC, und wechselt danach, wieder auf dem Flur, doch ein paar vernünftige Worte. Man darf diese journalistische Abart des Lobbying nicht überschätzen, sinnlos ist sie aber auch nicht. Es ist ein People Business.

Es passiert auch mal, dass ein Gesprächspartner rauchen geht, zuvor aber sein Tablet so ablegt, dass man mehr als einen Blick erhaschen kann. So Spielchen halt. Um Aktenberge oder große Datenmengen geht es hier nicht, da gibt es bessere Gelegenheiten als Olympische Spiele.

Wenn aber mal ein Mitglied des IOC-Exekutivkomitees wegen angeblich bandenmäßig betriebener Korruption im IOC-Hotel verhaftet wird, wie der Ire Patrick Hickey 2016 im Windsor Marapendi Hotel in Barra da Tijuca, dann hilft es schon, Zugang zu haben und nicht draußen bleiben zu müssen. Es sind diese besonderen Situationen, allerlei Zwischenfälle, die sich im Olympia-Wahnsinn stets zu weltweit beachteten Skandalen ausweiten können, in denen Nähe zu den handelnden Akteuren wichtig ist. Nähe, nicht im Sinne von Kumpanei, sondern, um beobachten zu können, Fragen zu stellen, zu diskutieren, zu recherchieren, Eindrücke zu gewinnen, halbwegs authentisch berichten zu können.

Das gilt für alle möglichen olympischen Problemfälle, auch für die allgegenwärtige Dopingfrage. Ich habe viele spektakuläre Dopingfälle und die Lügen der Betrügerbanden erlebt bei Olympischen Spielen. Es ist dabei immer hilfreich, wenn man Recherche mit Augenschein verbinden kann. Das wird ein Top-Thema in Tokio, nicht nur in der Leichtathletik.

Recherche und Augenschein. Basics halt. All das ist in Tokio gar nicht oder nur äußerst bedingt gegeben. Und das ist nicht nur mit Corona-Maßnahmen zu begründen, sondern Kalkül. Mindesdestens.

Außer, dass mir mit dem Entzug der Akkreditierung gedroht wurde, weil ich angeblich fotografiert hatte, bin ich in IOC-Absteigen selten bedroht wurden von olympischen Unholden, deren kriminelle Umtriebe ich recherchiere – so wie ich es an anderen Destinationen mittlerweile ständig erlebe, verbal und nonverbal, zuletzt etwa in Doha, auch in Tokio, mehrfach in Buenos Aires und in Budapest. Einmal, 2018 in Tokio, schrieb ich eine Beschwerde an die IOC-Ethikkommission, ohne irgendwelche Hoffnung, sondern nur um zu den Akten zu geben, dass mich Helfer des kuwaitischen IOC-Scheichs Ahmad Al-Fahad Al-Sabah bedroht hatten, unter Zeugen.

Oft musste man in derlei Etablissements sehr tapfer sein, etwa vor drei Jahren bei den Winterspielen in PyeongChang in Südkorea, als erst Putins Berater Igor Levitin durch die Lobby eilte, dann der Putin-Freund Gerhard Schröder mit seiner damaligen Lebensgefährtin und nunmehrigen Gattin So-yeon Schröder-Kim am Nebentisch Platz nahm, um sich fotografieren zu lassen und einem Agenturjournalisten die Vorzüge der Weltverbesserungsanstalt Olympia zu erläutern.

Wobei die wirklichen VIPs sich ja kaum in der Lobby herumtreiben. Für sie gibt es den Olympic Club des IOC, gewissermaßen das Heiligtum der Branche. Zuletzt in PyeongChang war der Club in einem Golf-Club zwanzig Minuten Fußweg vom IOC-Hotel untergebracht. Ich bin da mal mit Vizepräsident Juan Antonio Samaranch rüber geschlendert, dem gleichnamigen Sohn des langjährigen IOC-Präsidenten. „Lass uns auf dem Weg reden“, hat er gesagt, „da tun wir noch was für unsere Gesundheit.“

Juan Antonio Samaranch, Olympic Club 2018.

Bis zum Eingang des Olympic Club. Nicht weiter. Nur noch ein Foto.

Nie weiter.

Und in Tokio ist ohnehin alles anders. Strikter.

Nur nicht für jeden.

Der Senior Advisor des IOC wird mich gewiss auf dem Laufenden halten.

In Tokio wird unter dem Deckmäntelchen der COVID-19-Countermeasures die Pressefreiheit ausgehöhlt. Das zeichnet sich seit Monaten ab. Die Organisatoren verfolgen eine Ermüdungstaktik, akkreditierte Journalisten mit immer neuen bürokratischen Anforderungen und Restriktionen zu nerven und im unvergleichlichen Wirrwarr von Webseiten, Excel-Dateien, Passwörtern und selten funktionierenden technischen Tools Verzweiflung und Wut zu erzeugen. Das ist Teil einer übergeordneten Strategie: Man will so viele ausländische Journalisten wie möglich von einer Reise nach Japan abhalten.

Mission accomplished. Oder wie mir Claudio Catuogno sagte, Sportchef der Süddeutschen Zeitung: „Ich fliege erst am 21. Juli. Ich kann dann bestimmt von den Erfahrungen Eurer Rückreisen profitieren.“

Man braucht diesen Galgenhumor im real existierenden Olympiabusiness. Und doch steckt dahinter eine ernste Sorge, die einige führende US-Medien – darunter die Nachrichtenagentur AP, die New York Times und die Washington Post – in einem Protestbrief an den IOC-Präsidenten formuliert haben: Einige der angeblichen COVID-19-Vorsichtsmaßnahmen gehen zu weit und schränken die Pressefreiheit ein. In den ersten beiden Wochen nach Ankunft im Land ist es nicht einmal erlaubt, Interviews zu führen, auch mit Masken und Sicherheitsabstand nicht.

Neulich verschickte TOCOG eine weitere unverhohlene Drohung an Medienvertreter: Die japanische Bevölkerung sei ausdrücklich dazu aufgerufen, jedes Vergehen von Journalisten, beispielsweise einen kurzen Spaziergang ums Hotel (mal frische Luft schnappen) auf Fotos und Videos festzuhalten und die Übeltäter auf Social-Media-Kanälen bloßzustellen. Derlei Berichte hat es bereits gegeben, auch in japanischen Medien.

Olympia-Akkreditierungen sind normalerweise Goldstaub im Sportjournalismus, die Wartelisten sind lang. Für die Spiele in Tokio wurden dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) vom IOC 260 Presse-Akkreditierungen zugeteilt. Die meisten sind Voll-Akkreditierungen, die für alle Wettbewerbe gelten; einige sind eingeschränkte Spezialakkreditierungen für bestimmte Sportarten.

Mehr als 60 Akkreditierungen wurden bis Ende Juni zurückgegeben. Seither haben weitere Journalisten und Medien aus Deutschland verzichten, darunter sehr prominente. In anderen Ländern ist es ähnlich.

Das hat nicht nur mit der Sorge zu tun, sich in ein Superspreader-Event zu begeben. Die Absagen wurden selbstverständlich mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit begründet. Beides ist nicht voneinander zu trennen.

Andererseits ist es aber auch so: Gerade in Tokio mit all seinen Beschränkungen und nie dagewesenen Restriktionen braucht es Journalisten, die die Chancen, die sie nicht haben, zu nutzen versuchen.

Mehr kann man nicht tun.

Sonst blieben nur die vom IOC produzierten Bilder.

Sonst bliebe nur Propaganda.


Und da sind wir mitten im Thema: Wie finanziert sich freier, unabhängiger Journalismus?

Ich berichte bis 10. August 24/7 von den Corona Games aus Tokio. Im Shop oder direkt via PayPal können Sie olympische Hintergrundberichterstattung buchen und meine Arbeit unter erschwerten Bedingungen unterstützen – analog zu Rio und PyeongChang gibt/gab es den Tokio-Pass, aber mit viel mehr Content und einigen Extras wie einen täglichen Newsletter. Für absolute Gourmets und Supporter gibt es sogar ein IOC-konformes Tokio-Superpaket „Es werde Licht am Ende des Tunnels“!

9 Gedanken zu „Vom Wert des Journalismus bei den Propagandaspielen in Tokio“

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  7. Puh, ziemlich erdrückend diese Bedingungen. Gestern gab Hajo Seppelt weitere Einblicke im Players-Podcast des DLF. Er erzählte von einem Journalisten, der IM Hotel FÜNF (!!!) Kilometer um den Fahrstuhlschacht gelaufen sei. Nur um ein bisschen Sport zu machen, da das im Freien untersagt sei. Zum irre werden.

  8. Na ja, mit den reinen Corona-Beschränkungen kann ich mich arrangieren, so blöd das ist. Dass ich schlecht Luft kriege unter der Maske (bin es nicht gewohnt, weil daheim nur ab und zu beim Einkaufen eine Maske nötig ist), beklage ich doch nicht. Das ist alles so. Muss man durch.
    Der Punkt ist: An irgendeiner Stelle treffen sich Corona-Maßnahmen mit den Interessen von Organisatoren, unbeobachteter zu sein – um es so zurückhaltend zu formulieren. IOC und TOCOG würden das alles nie zugeben. Ich weiß von meinen guten Quellen, dass das alles sehr wohl eine Rolle gespielt hat. Je mehr Journalisten fernbleiben, desto besser. Wobei auch hier wieder gilt: Die große Masse der akkreditierten Medienvertreter will Sport sehen und sieht darin ihre Erfüllung.

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