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Das Olympische Bildungsmagazin

Was vom Tage übrig bleibt (106): Götterdämmerung im IOC

Ich habe in den vergangenen verrückt-besorgniserregenden Tagen vor allem für den SPIEGEL gedichtet und extensiv getwittert. Habe mich selten so gut informiert gefühlt und nahe am Geschehen. Mein Dank gilt den vielen Vögelchen im Hintergrund aus IOC und Weltverbänden, mit denen der Austausch vertrauensvoll, kontrovers und produktiv läuft – sehr spannend. Dazu einige Tweets und THREADS sowie die Links zu den jeweiligen Artikeln. Weiter unten das Rohmaterial der Texte.

Bleiben Sie gesund!

Textkritik zum IOC-Papier vom 22. März 2020

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat am Sonntagabend eine weitere Erklärung zu den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio verschickt. Das Papier ändert nichts am Status Quo der weltweit dramatischen Lage. Die Kernbotschaft des Pamphlets lautet lediglich: Man sei mit dem heutigen Tage in die Planung alternativer Szenarien eingestiegen. Innerhalb „der nächsten vier Wochen“ will man in Konsultationen mit den japanischen Organisatoren und allen sogenannten Aktionären der olympischen Bewegung (Verbänden, NOK, Fernsehanstalten, Sponsoren und anderen Vertragspartnern) über eine Alternative diskutieren und dann eine Entscheidung fällen.

Das IOC vermied das Wort Pandemie, erwähnte lediglich eine „dramatische Zuspitzung“ von COVID-19-Fällen „in verschiedenen Ländern auf verschiedenen Kontinenten“. Kein Wort dazu, dass es sich um eine tödliche weltweite Pandemie handelt. Auch Italien, mit der Lombardei und Mailand als Zentrum Gastgeber der Winterspiele 2026, wurde mit keinem Wort erwähnt. Das Papier gipfelte in der Aussage: „Das IOC-Exekutivkomitee betonte, dass eine Absage der Olympischen Spiele 2020 in Tokio keines der Probleme lösen oder irgendjemandem helfen würde. Deshalb steht eine Absage der Spiele nicht auf der Agenda.“

Man darf aus tausenderlei Gründen diese Formulierung abwandeln und sagen: Diese Erklärung des IOC löst keines der mit den geplanten Olympischen Spielen 2020 in Tokio verbundenen dramatischen Probleme und hilft auch keinem Sportler.

Nach Informationen des SPIEGEL wird in der IOC-Führung eine Verlegung der Spiele in den Herbst 2020 debattiert – in den Oktober oder November. Dies sei angeblich leichter umzusetzen als die Verschiebung in die Jahre 2021 oder 2022. Auch diese Überlegung, Herbst 2020, widerspricht eklatant den Szenarien von Virologen und Politikern weltweit. Das IOC-Exekutivkomitee beriet dazu per Telefonschalte am frühen Nachmittag. Am Text wurde dann einige Stunden gefeilt. „Gesundheit und Sicherheit stehen an erster Stelle“, wird behauptet. Das IOC werde die „beste Entscheidung im Interesse der Sportler und aller anderen Involvierten treffen“.

Keiner der Gesprächspartner, die an der Sitzung teilnahmen, wollte seinen Namen genannt sehen und sich zitieren lassen. Angeblich, so Mitglieder des Exekutivkomitees, habe sich die Lage seit dem Board-Meeting am Dienstag so sehr verschärft, das diese nicht vergleichbar mit der Lage am Sonntag sei. Das mag für den tödlichen Coronovirus und die Maßnahmen zahlreicher Regierungen gelten – weniger aber für das IOC und das Problem Tokio 2020. Denn der offensichtliche Grundkonflikt existierte schon am Dienstag.

In weiten Teilen der Welt ist an Training nicht zu denken, haben sich auch Sportler den harten Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung unterzuordnen. Sportler sind betroffen, ihre Familien und Freunde. An Olympiaqualifikationen ist nicht zu denken, das System ist zerbrochen. In Gesprächen mit IOC-Mitgliedern, gerade aus der Führungsebene, muss man derlei Basics stets wiederholen. Sie erwecken beständig den Eindruck, mit einigen Wochen mehr Zeit, sei der Stillstand der Welt zu beheben.

An die Sportler, unter denen weltweit der Widerstand wächst, wandte sich IOC-Präsident Thomas Bach in einem gesonderten Brief, der mit den Worten beginnt: „In dieser beispiellosen Krise sind wir uns alle einig.“ Das Gegenteil ist der Fall, wie an den vielen Absagen, Aufforderungen zur Verschiebung der Spiele und tausend anderen kritischen Äußerungen von Olympiasportlern, darunter olympischen Legenden, zu belegen ist. In den USA wollen die Olympiakader über ihre Teilnahme abstimmen, in Deutschland ebenfalls.

Der Brief enthält alle Ingredienzien, die man aus dem sportpolitischen Wirken des Thomas Bach seit Jahrzehnten kennt: Er ruft zur Einheit auf. Er erwähnt seine bitteren Erfahrungen mit dem Olympiaboykott 1980. Er skizziert ein „Dilemma“, auch das eines seiner Lieblingswörter in politischen Botschaften. Man müsse die Krise gemeinsam meistern. Am Ende des Tunnels werde die Olympische Flamme hell leuchten. 

Ein wichtiges Detail ist nicht zu unterschätzen. Bach wäre nicht Bach, wenn er das in seinem Brief und der Erklärung des Exekutivkomitees nicht genauestens kontrolliert hätte: Bei der Aufzählung der sogenannten Stakeholder, Aktionäre der olympischen Bewegung, wird die wichtigste Gruppe nicht erwähnt: die Sportler!

Übersetzt aus dem sportpolitischen Sprachduktus heißt das: Das IOC verhandelt weiter nur mit Verbänden und Nationalen Olympischen Komitees – aber jene Initiativen wie in Deutschland und den USA, wo Sportler über die Entscheidung ihrer Nationen und NOK abstimmen wollen, sind unerwünscht. Derlei Auswüchsen will man einen Riegel vorschieben.

Die Botschaft des IOC ist ein Papier der Hilflosigkeit. Vier Wochen Zeit will sich Bach sichern. Viel mehr ist in dem bemerkenswerten Dokument nicht enthalten. Erwartungsgemäß veröffentlichte das Internationale Paralympische Komitee (IPC), dass seine Spiele ab Ende August in Tokio geplant hat, eine Botschaft der Unterstützung. Ähnliches ist in Kürze von den Sport-Weltverbänden und vielen NOK zu erwarten. Das IPC allerdings sprach von einer „schrecklichen Krankheit, die die Weltgemeinschaft betrifft“ und schrieb: „Das menschliche Leben ist viel wichtiger als alles andere, und derzeit ist es wichtig, dass alle, einschließlich der Sportler, zu Hause bleiben.“

Einsam in Lausanne: die Niederlage des Thomas Bach

Die Frage einer Olympia-Verschiebung oder sogar einer kollektiven Absage deutscher Sportler bringt den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) ins Straucheln. Die Debatte um die Sommerspiele in Tokio nimmt dramatische Formen an. Zunächst hatte DOSB-Präsident Alfons Hörmann in einer Videokonferenz mit rund 200 Sportlern vorgeschlagen, eine Umfrage zu starten. Nachdem dann Fecht-Europameister Max Hartung, Chef des Vereins Athleten Deutschland, seinen Olympiaverzicht angekündigt hatte, planten die Aktivensprecher einen Coup,

Sie wollten sich bei einer bei am Sonntag andauernden Telefonkonferenz darüber verständigen, welche Fragen die Olympiakader (rund 1.000 Sportler inklusive der Kandidaten für die Paralympics) beantworten sollten. Man wollte den Aktiven die klare Option geben, sich für oder gegen die Olympiateilnahme zu entscheiden, die Gesundheits- und sogar lebensgefährlich sein könnte, sollten das IOC und die japanische Organisatoren an den Plänen für Juli festhalten. Selbst eine Verschiebung in den November, wie in Japan debattiert wird, änderte nichts am grundlegenden Problem. Virologen und Pandemie-Experten glauben nicht, dass der Coronavirus bis Ende des Jahres besiegt ist.

Die Sportler wollten die Kontrolle über den Fragebogen des DOSB haben. Es sollte im Grunde eine Abstimmung sein – bindend für den DOSB. Mit den Worten „die Sportler holen sich ihre Spiele zurück“, kommentierte Dagmar Freitag die rasanten Entwicklungen. Die SPD-Politikerin ist Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag. Überlegungen, wonach der für Sport zuständige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Verantwortung wahrnehmen und die Entsendungskosten für ein Olympiateam einfrieren könnte, erübrigen sich, meint Dagmar Freitag: „Ich glaube nicht, dass wir diese Reißleine ziehen müssen, weil ich davon ausgehe, dass die Sportler das selbst regeln.“

Das Thema wurde am Sonntag auf allen Kanälen verhandelt. Das IOC machte Druck. Es gab am Hinweise darauf, dass das DOSB-Präsidium und andere Funktionäre einknicken könnten. So ist eine windelweiche Erklärung des DOSB zu interpretieren, in der nur von einem „Stimmungsbild“ die Rede war, das man einholen wolle. Dann wolle man mit Spitzenverbänden und der Bundesregierung diskutieren. Bis dahin allerdings könnten andere Nationen, allen voran die USA, vorangegangen sein. 

Für den IOC-Präsidenten Thomas Bach naht der Super-GAU. Es wäre eine schwere persönliche Niederlage, von Sportlern das Stoppzeichen zu sehen. Es wäre viel mehr als nur eine Ironie der Geschichte, wie man derlei Entwicklungen gemeinhin tituliert: Denn Bach begann seine sportpolitische Karriere einst als Athletensprecher, der vergeblich gegen den Olympiaboykott der Bundesrepublik 1980 ankämpfte. Der Schmerz dieser Niederlage, die damalige Hilflosigkeit und die Lehren daraus prägen seine seine gesamte Karriere. 

„Es war eine Schule, die durch nichts zu ersetzen ist. Es brennt immer noch“, hat Bach einmal über das Jahr 1980 gesagt. Er entschied sich wenig später, in die politische Lehre zu gehen. Er arbeitete im Bundestagsbüro von Wolfgang Mischnick, der auch der Grund war, in die FDP einzutreten. Andere ehemalige FDP-Minister wie Hans-Dietrich Genscher, Helmut Hausmann und Hans Friderichs prägten seinen Weg, bis hin zu geschäftlichen Verbindungen, etwa gemeinsamen Kanzlei und Unternehmen. Die FDP-Allianz öffnete Bach auch den Weg in die Wirtschaft.

Vor allem aber schrieb Bach eine Doktorarbeit, die er 1983 an der Uni Würzburg mit summa cum laude verteidigte. Titel: „Der Einfluss von Prognosen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.“ Diese 211 Seiten umfassende staubtrockene juristische Schrift ist im Grunde aber ein politisches Papier. „Es ging mir um die Schnittstellen von Recht und Politik“, sagt Bach. „Es ging um beiderseitige Gestaltungsspielräume. Das hat mich interessiert.“

Bach wollte den Spieß umdrehen. Er wollte nie wieder in so eine hilflose Lage kommen wie 1980, als sich die Bundesrepublik und weite Teile des Westens wegen des Einmarschs der Sowjetunion in Afghanistan entschlossen, die Sommerspiele in Moskau zu boykottieren. 1981 wurde Bach vom damaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch für die erste IOC-Athletenkommission ausgewählt. Bach folgte seinem Plan. Wurde Industrielobbyist. Schaffte es im IOC nach ganz oben. Sieht sich auf einer Ebene mit Staats- und Regierungschefs. Promotet die angebliche Neutralität des Sports, solange es IOC-Interessen nützt. Verkauft sich bis heute als Sportlerversteher und hat dabei doch im IOC ein hartes Regime etabliert. 

In seiner 2013 begonnen Präsidentschaft, die turnusgemäß zunächst bis 2021 andauert, vertrat er vor allem den Standpunkt, der Sport müsse „mit einer Stimme sprechen“. Abweichler in der Athletenkommission wurden gemaßregelt. Die aktuelle Kommission mit Simbabwes Sportministerin Kirsty Coventry an der Spitze, ist mehrheitlich mit Ja-Sagern besetzt. Die selbstbewussten, engagierten Vertreter des Vereins Athleten Deutschland e. V., der unabhängig vom DOSB agiert und mit Bundesmitteln gefördert wird, haben dem IOC in einem Kartellverwaltungsverfahren bereits eine schwere Niederlage zugefügt: Die umstrittene Regel 40 des IOC über Werberegeln musste gelockert werden, die Sportler erhielten mehr Werbemöglichkeiten.

Nun geht es also um die Olympiateilnahme und die Frage einer Verlegung der Tokio-Spiele. Die deutschen Sportler kooperieren seit Jahren eng mit Athletenvertretern anderer Nationen, etwa in den USA und Kanada, wo der Widerstand gegen die Sommerspiele ebenfalls rasant und gewaltig wächst. Der deutsche Vorstoß dürfte einen Schneeball-Effekt auslösen – und alle IOC-Maßnahmen, die Sportler zu belehren und domestizieren, wäre Makulatur.

Vor wenigen Tagen scherte als erstes IOC-Mitglied die kanadische Olympiasiegerin Hayley Wickenheiser aus, die Menschlichkeit vom IOC und Thomas Bach einforderte, anstatt stur an den Sommerspielen festzuhalten. Auch Wickenheiser erhielt barsche Reaktionen aus der IOC-Administration. Bei einer Telefonschalte mit der IOC-Führung vergangenen Mittwoch fiel plötzlich ihr Mikrofon aus. Hayley Wickenheiser kennt die Pläne der deutschen Sportler zur Olympia-Abstimmung und findet das wunderbar. Gleichzeitig reicht sie dem IOC-Präsidenten die Hand: „Wenn Thomas Bach Hilfe und Rat brauchen sollte, bin ich die erste, die dabei ist“, sagte Wickenheiser.

Einige IOC-Mitglieder und Präsidenten olympischer Welt-Sportverbände beschreiben die Lage in der IOC-Zentrale in Lausanne als verzweifelt. In diesen dramatischen Tagen rächt sich, dass Bach äußerst wenige Ratgeber hat, die konstruktive Kritik üben. Im Grunde, sagt einer derjenigen, der Kontakt zu ihm hat, könne sich Bach derzeit nur auf die beiden Frauen an seiner Seite verlassen: Seine Ehefrau Claudia – und seine langjährige Sekretärin Monika Scherer. Der Gedanke an 1980 prägt gerade in diesen Tagen sein Handeln. Die Welt steht still und versucht verzweifelt, die Corona-Pandemie einzudämmen und irgendwann zu besiegen – und Bach betrachtet die Verlegung der Sommerspiele als persönliche Niederlage.

Das ist die persönliche Tragik des IOC-Präsidenten. Bach ist aber natürlich vor allem Pragmatiker, der aus schwierigen Situationen stets Auswege gefunden hat, etwa als dem IOC die Olympiabewerber ausgingen und er deshalb die Sommerspiele 2024 (an Paris) und 2028 (an Los Angeles) zugleich vergeben ließ. Es heißt, inzwischen dränge Bach Japans Ministerpräsidenten Shinzo Abe, die Spiele zu verlegen. Dieser aber ist noch starrköpfiger. Das IOC will, dass Japan die Entscheidung trifft, was angeblich auch mit juristischen und versicherungstechnischen Regeln zusammenhängt. Die entsprechenden Details sind aus jenem Teil des Ausrichtervertrags, der öffentlich zugänglich ist, nicht herauszulesen. Es existieren aber vertragliche Zusätze.

Am Ende stehen wohl doch Geldfragen im Vordergrund. Geschäft vor Vernunft und Gesundheit? Auf diese Frage spitzt sich vieles zu. Immer mehr Sportler geben in bewegenden Botschaften und Interviews ihre Antwort darauf. Nun also die historische Initiative der deutschen Athletenvertreter. Wie einst Thomas Bach nutzen sie ihre Gestaltungsspielräume und drehen nun den Spieß um.

Und noch vom 19. März ein Nachtrag

Hayley Wickenheiser ist eine der bekanntesten Eishockey-Spielerinnen aller Zeiten. Sie gewann mit Kanada vier olympische Goldmedaillen, wurde einmal Zweite, spielte in einer semi-professionellen Männer-Liga und nahm mit dem Softball-Team sogar an den Sommerspielen 2000 in Sydney teil. Seit 2014 gehört sie als Athletenvertreterin zu den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Ihr Wort sollte Gewicht haben. Als einziges IOC-Mitglied kritisierte sie bislang deutlich den rigorosen Durchhaltekurs des Olympiakonzerns. Ihre Tweets machen weltweit Schlagzeilen. Das IOC handele „unverantwortlich und gefühllos“, rigoros an den Plänen für Tokio festzuhalten, schrieb sie. „Diese Krise ist größer als die Olympischen Spiele.“

„Ich fordere nicht, die Olympischen Spiele abzusagen. Aber wir müssen vor allem Menschlichkeit zeigen und können nicht einfach so weiter machen“, sagt Hayley Wickenheiser im Gespräch mit dem SPIEGEL. „Wir sollten keine Durchhalteparolen verbreiten. Was in Italien passiert, sollte uns allen eine Warnung sein. Gerade wurde auch die Grenze zwischen den USA und Kanada geschlossen. Die Weltbevölkerung ist dramatisch von dieser Pandemie betroffen. Nur das zählt momentan. Ich habe die Lage zu Beginn auch noch etwas anders gesehen und dachte, dieser Virus werde schnell wieder verschwinden. Doch als Medizinerin habe ich die vergangenen zweieinhalb Monate in der Notaufnahme verbracht. Ich weiß es jetzt besser und sehe die Gefahr.“ 

Wickenheiser sagt nicht ausdrücklich, die Spiele müssten verlegt werden – sie meint es aber. Sie wählt ihre Worte vorsichtig. Doch sind schon diese diplomatischen Sätze, adressiert an die IOC-Führung, etwas Besonderes. Denn ein Mantra des IOC-Präsidenten Thomas Bach lautet: Der Sport müsse mit einer Stimme sprechen. Abweichler werden in der Regel geächtet, das mussten schon einige Athletenvertreter vor Hayley Wickenheiser erleben: Beckie Scott (Kanada), Claudia Bokel aus Deutschland und der Brite Adam Pengilly etwa.

„Die Spiele werden weiter gehen“, sagt Hayley Wickenheiser in Anspielung auf das legendäre Zitat – „The Games must go on“ – des IOC-Präsidenten Avery Brundage nach dem Olympia-Attentat 1972 in München. „Ich attackiere niemanden. Ich will keine Instabilität in der olympischen Familie. Ich will keine Panik machen. Aber ich sage klar und deutlich: Jetzt helfen nur drastische Maßnahmen!“

Als IOC-Präsident Thomas Bach heute zum Abschluss von zweitägigen Online-Beratungen auch die Telefonkonferenz mit Athletensprechern durchzog, konnte Hayley Wickenheiser ihre wohl begründete Haltung nicht wiederholen. Es gab technische Probleme – bei ihr. Die Bosse der 33 olympischen Sommersportverbände waren tags zuvor teilweise noch per Video zugeschaltet. Die Athleten durften bei ihrer Telefonkonferenz nur Fragen stellen. Über eine Verlegung der Spiele wurde nicht debattiert – genauso wenig wie bei bei Bachs Terminen mit den Fachverbänden oder den Vertretern der Nationalen Olympischen Komitees (NOK), wie zahlreiche Teilnehmer in Gesprächen mit dem SPIEGEL berichteten.

Die IOC-Administration hatte routiniert diverse Schriftstücke vorbereitet, die an beiden Tagen als Kommuniqués oder Stellungnahmen verbreitet wurden. So läuft das immer unter Thomas Bach, dieselben Taktiken und Mechanismen waren auch in den vielen Krisensitzungen zum russischen Staatsdoping zu beobachten. Die PR-Botschaft: Die olympische Familie hält zusammen und steht in der Pandemie voll hinter der weisen Führung des IOC. „Auch ich wünsche mir Olympische Spiele, natürlich“, sagt Hayley Wickenheiser, „doch in dieser schweren Lage sind wir zuerst einmal Menschen, die sich um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien sorgen. Wir sollten zunächst als verantwortungsvolle Weltbürger handeln, erst dann Sportler oder IOC-Mitglieder.“

Wickenheiser hat hunderte Reaktionen von Athleten bekommen, durchweg positiv. Sie hat viele Interviewanfragen erhalten. Thomas Bach aber hat nach den Tweets nicht mit ihr gesprochen. Auch Kirsty Coventry nicht, Simbabwes Sportministerin, die als Vorsitzende der IOC-Athletenkommission stets getreu an Bachs Seite steht. Ausgetauscht hat sich Wickenheiser lediglich mit Tricia Smith, die als Präsidentin des kanadischen NOK auch dem IOC angehört. Team Canada hat in einer Stellungnahme zwar bewegendere Worte gewählt als das IOC am Dienstag, steht aber hinter dem IOC-Präsidenten, der die Linie vorgibt, es sei zu früh für Entscheidungen.

Die IOC-Familie setzt auf den Mai und eine dramatische Besserung der Lage. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und sein Präsident Alfons Hörmann (CSU) erklärten mehrfach, im Mai müsse die Entscheidung fallen – während das Leben quasi still steht und Großwettbewerbe abgesagt werden, die sich zeitlich nahezu mit den Olympischen Spielen überschneiden, wie die Fußball-Europameisterschaft, oder teilweise sogar danach stattfinden sollten. Das EM-Finale war für den 12. Juli geplant – am 14. Juli soll in Tokio das Olympische Dorf eröffnet werden, damit die beginnt offiziell die „Olympic Period“, die Spiele sollen dann am 24. Juli eröffnet werden.

Klaus Schormann, Präsident des Weltverbandes des Modernen Fünfkampfs (UIPM), steht fest hinter den Vorgaben der IOC-Führung. „Wir haben eine hohe Verantwortung zu tragen“, sagt Schormann. „Das gilt übrigens auch für Journalisten, sie sollten nicht alles umdrehen und nur das Negative heraus lutschen.“ Debatten über eine Olympia-Verschiebung sind für Schormann „Hysterie und Panik und die völlig falsche Entwicklung“. Drei Aufgaben stünden im Vordergrund, sagt der Hesse: „Die Gesundheit der Athleten, Trainingsmöglichkeiten und Solidarität.“ Thomas Bach habe das Gespräch mit den 33 Weltverbänden „sehr offen und auf ausgesprochen faire Weise geführt“. 

Andere Gesprächsteilnehmer berichten von schwer erträglichen Usancen und einem merkwürdigen Demokratieverständnis. Zudem fiel auf, dass für den Gewichtheber-Weltverband IWF auch der unter Korruptionsverdacht stehende Ungar Tomás Aján an der Schaltkonferenz teilgenommen hat. Dabei kämpft eine Opposition für Ajáns Absetzung, dabei hat dieser sich „selbst suspendiert“ und musste inzwischen seine IOC-Ehrenmitgliedschaft aufgeben. Andere Präsidenten hätten sich ein Machtwort des Versammlungsleiters gewünscht. Schormann sagt, er habe gar nicht mitbekommen, dass Aján dabei gewesen sein soll.

„Das ist alles so enttäuschend“, sagt Hayley Wickenheiser. „Einige der Athletensprecher haben schon die richtigen Fragen gefragt. Im Grunde kam nur Blablabla zurück. Uns wurden Vorträge zu Dopingkontrollen und organisatorische Fragen bei den Sommerspielen in Tokio gehalten. Dabei geht es doch um viel Wichtigeres.“


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3 Gedanken zu „Was vom Tage übrig bleibt (106): Götterdämmerung im IOC“

  1. Und er bürdete dem [Olympiaboykott 1980] die Summe der Wut und des Hasses der ganzen Menschheit auf. Wäre sein Leib eine Kanone, er hätte sein Herz auf ihn geschossen.

    Frei nach Melville.

  2. SZ-Kommentar von Johannes Knuth: Ein Sieg der Athleten

    Viel Sport wurde zuletzt nicht getrieben, das IOC schaffte es trotzdem, einen olympischen Rekord aufzustellen: als Weltfremdester unter den Weltfremden.

  3. Pingback: EXCLUSIVE: How dependent federations are on the revenues of the Olympic Games - SPORT & POLITICS

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