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Das Olympische Bildungsmagazin

live aus Rio (19): The Legend #Boltwatching und ein Fabelweltrekord von Wayde van Niekerk

RIO DE JANEIRO. Was bringt Mann nicht für Opfer für seine zahlende Kundschaft. Ich mach mich mal auf den Weg ins Leichtathletik-Stadion. Wenigstens einmal. Der Tradition folgend. Jogging Gate, Boltwatching, nennt es wie Ihr wollt. Ein paar blöde Bemerkungen werden schon dabei rausspringen, so wie 2008 in Peking, 2009 in Berlin, 2012 in London und überhaupt. Dazu einige vielleicht nützliche Hinweise – und weiter arbeiten an den eigentlichen Themen.

Schöne Grüße von Hassan Moustafa bis dahin.

19.53 Uhr: Kaum sind zwei Stunden um, sitze ich auch schon einsatzbereit am Platz. Dass die Klamotten am Leib kleben (nachdem ein verdammt junger Kollege noch ordentlich Coke über meine Hose geschüttet hat), merkt man kaum noch, so voll im Flow. Nur dass es an allen Ecken und Enden stinkt, stinkt mir derzeit gewaltig. Jeden Tag ein anderes Zipperlein. Ist schon komisch. Sitzt man da im Buss, dicht an dicht, so wie man niemals sitzen will, und dann stinkt das los. Man schaut zuerst die eigenen Schuhe an, dann wandert der kritische Blick die Hosenbeine hoch, überprüft so manches Detail, um dann, erleichtert nun, die Nachbarn zu untersuchen.

Dabei ist das einfach nur Rio. Die himmlisch-scheußliche Kloake.

19.57 Uhr: Wie man seit 2008 weiß, sind die Jogging-Übungen von The Legend ja das Highlight so mancher Olympischer Spiele gewesen. In Rio ist der Andrang auch enorm, bin gespannt, was uns Mario Andrada, der Sprecher des ROCOG, morgen wieder Dämliches vorflunkert über den Zuschauerandrang.

20.13 Uhr: Hat wahrscheinlich mit den leeren Stadien zu tun, dass meine nächste knallharte Recherche gerade dies ergab:

Die Animateure versuchen, das leere Stadion mit grässlichem Geschreie zu beleben. Da helfen nur Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, die ich jeden Tag dabei habe. Die spinnen einfach.

Sollte ich es noch nicht getan haben, dann Schande über mich. Auf meiner To-do-Liste steht seit Ewigkeiten:

20.36 Uhr: Fairerweise muss ich sagen, dass jetzt doch ein paar tausend Menschen im Stadion sind. Freitickets?

Und dann noch der #Gestank der ekligsten Cheeseburger, die ich mir vorstellen kann, direkt neben mir.

21.08 Uhr: The Legend. erstes Halbfinale. Bahn 6. Auf drei: Kim Collins? Ich fass es nicht. Oder ist es der gleichnamige Enkel von Kim Collins?

9,86 für The Legend. Souverän gejoggt. Vor de Grasse (Kanada/9,92) und Vicaut (Frankreich/9,95).

Pfiffe für Justin Gatlin, wie immer, im zweiten Halbfinale. Gatlin lässig. 9,94. Geht ab, bevor die nächsten Pfiffe kommen.

21.22 Uhr: Siegerehrung. Bronze für das Zahnspangenmädchen, das zuletzt zweimal Gold gewann. Gold diesmal an Elaine Thompson.

So sieht es jetzt auch. Geht schon. Wo sind die alle hergekommen?

21.25 Uhr: Schätze, vier volle Tage habe ich in den vergangenen zwei Wochen in irgendwelchen Schlangen angestanden für Dinge, die in insgesamt einer Stunde hätten erledigt werden können. Von den Preisen mal abgesehen, für diesen lumpigen Teller vom Buffet heute im MPC: zwischen 25 und 30 Euro …

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Wenn Mann dann also für ein Tablett und einen Pappteller angestanden hat, steht Mann für einen Kaffee an, was so lange dauert, als würde der gerade erst im bolivianischen Hochland geerntet. Dann reiht Mann sich in die Schlange am Buffet ein, um alsbald, wenn Mann Glück hat, eine kurze Schlange an den Kassen zu erwischen. Doch selbst wenn nur fünf Kunden vor einem stehen sollte, dauert das, weil die Menschen hinter den Kassen nicht nur in Zeitlupe arbeiten, sondern auch weil die Kassensysteme alles sind, nur nicht effizient. Alles muss mit einer Maus eingegeben werden. Da kaum ein Kassierer Englisch versteht und kaum ein Kunde Portugiesisch, schon gar nicht in dieser brasilianischen Tonart, wird noch ein wenig verhandelt. Irgendwann schließlich, wenn Kaffee und Steak kalt genug sind, kann man sich einen Platz im gut durchgekühlten Zelt suchen.

In den Arenen gibt es – im Gegensatz zum MPC – nicht nur überteuertes, aber akzeptables Essen, sondern den wirklich letzten Müll. Dafür haben sich die Brasilianer selbst im dichtesten Gedränge (so das ausnahmsweise entsteht) auch was Feines ausgedacht. Erst bestellen (natürlich versteht niemand ein Wort und man selbst ist auch zu blöd) und am gesonderten Schalter bezahlen, dann nochmal anstehen und mit einem Bon die Ware abholen, die aber auch erst geerntet und dann von vielen Menschen diskutiert werden muss. Das sieht jedesmal ungefähr so aus:

21.46 Uhr: Um es vorwegzunehmen, das wird das dritte oder vierte und damit letzte Mal sein, dass ich mich auf eine olympische Tribüne setze. Es bringt nichts. Es interessiert mich nicht die Bohne. Daheim liest eh niemand mit (die Hundertschaft, die aushält und nachts gelegentlich vorbei schaut, wird das nicht beleidigen). Ich werde mich um anderes kümmern, Zeit, Energie und Spesen dort verprassen. Nur noch eine Woche und ich habe noch viel vor. Werde also direkt nach dem Sieg des Witzboldes hier verschwinden und mich um einen Bus oder ein Taxi bemühen.

Was ich heute schon mit einigen Gleichgesinnten diskutiert habe: Uns wundert kolossal, wie viele amerikanische und britische Journalisten, die bis vergangenen Freitag, manche darüber hinaus, täglich megakritisch über die Spiele und das IOC und die Organisation und den Wahnsinn berichtet und richtig gute Geschichten veröffentlicht haben, nun längst dazu übergegangen sind, sich an den Medaillen zu berauschen. Ob nun am Schwimmbassin, wie die Amis, oder beim Rudern und Radfahren, wie die Briten. Sie jubeln, wenn Weltrekorde pulverisiert werden und stellen nicht ein Promille jener Fragen, die sie den Russen stellen.

Das ist komisch.

Ich wiederhole, was ich seit Monaten sage: das Dopingproblem der Russen ist besonders, weil staatlich orchestriert und bestens belegt. Die Frage aber, warum andere die Weltrekorde pulverisieren, so wie im 10.000 Meter Lauf Almaz Ayana die gedopte Bestleistung von Wang Junxia, der Vorzeigeläuferin als Mas Schildkrötenblut-Armee, dann löst das kaum Fragen aus. Obwohl, bei Ayana schon, denn sie kommt aus Äthiopien. Bei den Dauersiegern Mo Farah oder Michael Phelps und Bradley Wiggins aber bleiben Briten und Amerikaner doch erstaunlich defensiv, wenn sie nicht,. siehe oben, sogar jubeln.

Das ist sogar sehr komisch.

Auch das möchte ich mir nicht mehr antun.

22.04 Uhr: Wayde van Niekerk (24) aus Südafrika liefert auf Bahn 8 das, wie sagt man: perfekte 400-m-Rennen.

Und da schau her. Er verbessert den Rundenweltrekord von Michael Johnson aus dem Jahr 1999 um 15 Hundertstel auf 43,03 Sekunden.

Ich glaube kein Wort bzw keine Sekunde, was ich da sehe.

Denn diese Momente des Johnson-Weltrekordes bei der WM in Sevilla damals haben sich tief eingebrannt in die Seele, in meine Seele. Hatte das zu Beginn der Olympiaberichterstattung erwähnt. Hatte damals einen sensationellen Arbeitsplatz, ganz unten, wenige Meter von der Ziellinie entfernt, es fühlte sich an, als könnte man die Läufer greifen. Besser noch: Zum Johnson-Lauf, von ihm hatte ich 1996 in Atlanta schon den 200-m-Weltrekord gesehen, rutschte Marie-José Pérec auf den freien Platz rechts neben mich. Wir haben uns danach sogar kurz angeschaut. Entgeistert. Beide. Sie schüttelte den Kopf, brauchte eine Weile, um sich zu fassen.

Werde auch nie vergessen, was 1996 in Atlanta der ehemalige französische Weltrekordler Michel Jazy nach Ansicht des Johnson’schen Halbrundenrekords gesagt hat:

Ich habe angefangen zu weinen. Nicht vor Freude, sondern aus Nachdenklichkeit. Diese Leistung wurde nicht natürlich erzielt.

Ich weine nicht. Ich lache nur.

Es lässt mich kalt.

22.20 Uhr: Wenn dann noch der weltbekannte Dopingdrogendealer Angel Heredia meinen ersten Tweet zum Weltrekord liked, sehe ich das als Beleg. Da könnte ich schon wieder lachen.

22.21 Uhr: Bolt. The Legend. Witzbolt. Finale. Sprechchöre. Bolt! Bolt! Bolt! Bolt!

Der Typ ist irre. Wem sage ich das. Marschiert 30 Meter nach vorn und lässt die Massen kreischen.

Die Musik nervt. Scheiße. Echter Müll. Nimmt vieles raus. Dämlich. Grässlich.

22.28 Uhr: Erledigt. Ich sah 9,30 aufleuchten. Aber ich spinne. 9,80 reichen auch. Jetzt 9,81. Bolt vor Gatlin (9,89) und de Grasse (9,91).

Mein Kind daheim ist begeistert. Das lasse ich einfach geschehen. Da kann man gar nichts tun. Es ist ein tolles Kind.

Wenigstens läuft er mit fast 30 (nächsten Sonntag) nicht schneller als in Peking und Berlin. Das haut hin.

00.28 Uhr: Nächste Schicht im MPC. Das Stadion hatte sich zehn Minuten nach Bolt schnell wieder geleert. Es lief noch der Wettbewerb der Hochspringer, da saß es auf den Rängen wieder so aus wie oben auf den ersten Bildern.

8 Gedanken zu „live aus Rio (19): The Legend #Boltwatching und ein Fabelweltrekord von Wayde van Niekerk“

  1. So. Jetzt geht es schon langsam auf 2 Uhr in der Nacht zu und der Witzbold ist immer noch nicht im Ziel?! … Pah! Da sind ja am Ende die Tennisspieler schneller. Naja, bei diesem Rollator-Tempo dürfte für heute dann ja wenigstens der Dopingfrage die Grundlage entzogen sein.

  2. Murray gewinnt nach hartem Kampf. Respekt vor beiden.

    Und the legend joggt so halb mit 9,86 ins Finale.

  3. #unddannstinktdaslos :-) Lohnt sich ja auch morgens zu lesen. Sorry, lese auch nur noch tagsüber jetzt. Die stinken halt, diese Spiele. Halt durch.

  4. Anno Hecker in der FAZ: „Aufstand gegen das dunkle Gesicht des Sports“

    Nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung genügte das wissenschaftliche Niveau von brasilianischen Analysten vor den Mikroskopen nicht dem nötigen Anspruch.
    […]
    Schon die Schilderung der englischen Tageszeitung „Telegraph“, Kontrolleure hätten ihre Taxifahrten selbst zahlen müssen und seien deshalb wieder abgereist, hatte in der vergangenen Woche Zweifel an der Seriosität genährt.

  5. TI: Transparency Deutschland fordert nach Olympia Neustart im Vorgehen gegen Doping

    Die WADA muss unabhängige Experten im Rotationsprinzip in den Laboren einsetzen und den Bereich Investigation, der vor kurzem eingerichtet wurde, konsequent ausbauen.
    […]
    Vorstände von Internationalen Föderationen (IF) und Nationalen Olympischen Komitees (NOK) müssen künftig für Versäumnisse in der Umsetzung von Anti-Doping-Vorgaben zur Verantwortung gezogen werden können, zum Beispiel durch einen Ausschluss von internationalen Funktionen oder weitergehende Suspendierung. Dazu gehört, dass die unter anderem vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ausgeschütteten Gelder an IFs und NOKs klare Auflagen zu Anti-Doping-Maßnahmen enthalten und gegebenenfalls einbehalten werden müssen.

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