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Das Olympische Bildungsmagazin

„Du bist gegangen!“

Sie waren Helden, aber keine Widerstandkämpfer. Sie haben Großes geleistet im Sport. Sie waren in der DDR äußerst erfolgreich. Sie waren privilegiert. Sie alle haben einst dennoch die DDR verlassen: Jürgen Sparwasser, Hans-Georg Aschenbach, Falko Götz, Jürgen May, Claus Tuchscherer, Lutz Eigendorf, Wolfgang Thüne, Jörg Berger und viele andere. Die Stasi nannte sie „Sportverräter“ und hat ihnen einen so genannten Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) gewidmet.

Das „Zentrum Deutsche Sportgeschichte“ um die Historiker Jutta Braun und Michael Barsuhn will ihre Geschichten aufarbeiten. Eine Diskussionsveranstaltung in der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ vergangenen Mittwoch in Berlin soll ein Anfang sein. Die Frage ist nur: Wer zahlt die Forschung? Seit 1994 die damalige Gauck-Behörde eine bemerkenswerte Studie veröffentlichte, gibt es zum ZOV „Sportverräter“ eigentlich keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse. Mindestens 615 Leistungssportler, Funktionäre, Sportmediziner und Trainer haben die DDR verlassen. Zahlen sind das eine. Geschichten das andere. Jede Generation kennt ihre Fluchtgeschichten. Manche Abtrünnige Karin Balzer, die Hürden-Olympiasiegerin von 1964, oder die Eishockeyspieler Guido Hiller und Stefan Steinbock, wurden von der Stasi zurückgeholt und durften als Sportler weitermachen. Andere, wie der Fußballer Lutz Eigendorf, wurden wahrscheinlich von der Stasi im Westen ermordet.

Man kann sich durch Berge von Stasi-Akten wühlen. Man kann, wie manche Forscher, akribisch die Zahl von inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi zusammentragen, die auf Sportler angesetzt waren und etwa bei Olympischen Spielen im DDR-Team zugegen waren. Man kann Befehlsstrukturen beschreiben. Was aber mehr wirkt und was der Geschichte und den Geschichten die Tiefe gibt, sind Sätze wie diese, ausgesprochen von Hans-Georg Aschenbach, 22 Jahre nach seiner Flucht in den Westen:

„Die einzige, die mich verstanden hat, war meine Mama.“

Aschenbach war 1974 Weltmeister und 1976 Olympiasieger im Skispringen. Er blieb 1988, da war er schon Verbandsarzt, bei einem Mattenspringen in Hinterzarten in der Bundesrepublik. Er holte ein knappes Jahr später, in einer erstaunlichen Aktion unter Einschaltung der Menschenrechtsbeauftragten der Vereinten Nationen und der Bundesregierung, noch vor dem Fall der Mauer seine Familie nach. Doch die Ehe zerbrach. Seine erste Frau und seine Kinder „können nicht vergessen und nicht verzeihen, was da passiert ist“, sagt Aschenbach.

„Und mit meinem Vater kann ich heute noch nicht darüber diskutieren, weil er es nicht versteht.“

Es ist diese menschliche Dimension, die nachwirkt und beeindruckt. Tragik und Brüche im engsten Familienkreis.

Der Turner Wolfgang Thüne ist 1975 von der Europameisterschaft in Bern von seinem westdeutschen Kontrahenten Eberhard Gienger in dessen Opel Mantra über die Grenze gebracht worden. Gienger fuhr danach zurück, um am Abschlussbankett teilzunehmen, zu feiern und sich bei allen sehen zu lassen, damit niemand auf die Idee käme, er habe mit Thünes Flucht zu tun. 25 Jahre lang blieb diese Geschichte nur wenigen Eingeweihten bekannt. Für Gienger, heute CDU-Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), war es eine abenteuerliche Episode. Für Thüne war es der Schritt in ein neues Leben. Seine Tochter, geboren 1973, hat er erst 1989 nach dem Mauerfall wieder gesehen.

Hans-Georg Aschenbach sagt: „Zu Hause ist der halbe Ort gegen mich.“ Er meint damit nicht seine zweite Heimat Freiburg. Er meint Brotterode in Thüringen. „Ich gehe trotzdem nach Hause und grüße alle ganz arg freundlich!“ Vor allem im Sport, sagt er, wird nur übereinander, aber kaum miteinander geredet.

„Es ist immer noch ein System dazwischen. Geht aber niemand aufeinander zu, wird es nie bereinigt.“

Er hat versucht, mit Jens Weißflog zu reden. Aber ein wirkliches Gespräch kam nicht zustande. Weißflog zählte neben Katarina Witt, Kristin Otto und Wolfgang Hoppe zu jenen Olympiasiegern, die im Sommer 1989 in DDR-Zeitungen Aschenbach verdammen mussten. „Erst der Verrat, dann die Lüge“, titelte damals die FDJ-Zeitung Junge Welt, nachdem Aschenbach in der Bild-Zeitung über das DDR-Dopingsystem berichtet hatte. 30.000 Westmark gab es dafür, ein vergleichsweise bescheidener Lohn. „Damals ging es mir noch um die Wahrheit, weniger ums Geld“, sagt Aschenbach und grinst. Geld hat er im Umfeld der Freiburger Dopingärzte Klümper und Keul später genug verdient, das ist eine andere Wahrheit, über die er am Sonntag im „Sportgespräch“ des Deutschlandfunks berichtet.

Heute geht es Aschenbach um Rehabilitation. Diesen Begriff benutzt er oft. Dabei weiß er doch genau, dass es die Rehabilitation für einen wie ihn nicht gibt. Er ist eben der „Sportverräter“, der Armeearzt, der Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, der hochrangigste republikflüchtige Sportler, wenn man so will. Die einen sagen noch immer vorwurfsvoll: „Du bist gegangen!“ Die anderen sahen ihn kommen und hatten doch kaum Interesse an seiner Geschichte.

Dazwischen gibt es nicht viel.

„Das ist eine Frage der Generationen. Das sitzt in den Köpfen“, sagt Wolfgang Thüne. Mit den jüngeren, „den 30-jährigen, die nicht in dieser Zeit gelebt haben“, könne man reden. „Da geht es wieder.“ Doch mit den älteren, seinen ehemaligen Sportkameraden in Potsdam? Kaum. Funkstille. Kürzlich war er bei einem Ehemaligentreffen. Da sitzt man dann eben an anderen Tischen. Mit einem der Stasi-IM, die ihn bespitzelt haben, teilte er einst die Zimmer im Internat und auf Reisen. Der Spitzel hat sich nie erklärt.

Thüne legt nun keinen Wert mehr darauf.

Ich wollte diesen Text – erschienen in der Berliner Zeitung und in der Stuttgarter Zeitung – eigentlich gründlich aufmöbeln mit einigen Dokumenten, vielen Links und etlichen Buch-Empfehlungen. Doch dazu komme ich in diesen Tagen leider nicht. Das Thema ist mir allerdings sehr wichtig – steht deshalb ziemlich weit oben auf der to-do-Liste für das Blog.

22 Gedanken zu „„Du bist gegangen!““

  1. Sehr amüsant, wie sich der Interwiever müht, Jürgen Sparwasser doch noch bestätigend in seine Auffassung zum Trikottausch einzubinden. Danke Jürgen, auch für das Tor.

  2. „Ich habe eine sehr gute Zeit gehabt in beiden Systemen. Da bin ich Zeitzeuge.“

    Ein schwieriges Gespräch.

    Mir drängt sich die Frage auf, was wäre gewesen, wenn Hans-Georg Aschenbach Chefarzt beim ASK Oberhof geworden wäre.

    Auf die Frage nach Reaktionen auf bundesdeutscher Seite:

    „Alle lieben den Verrat, keiner den Verräter. So kam ich mir letztendlich auch vor. Letztendlich war ich dann auch hier eine Art von Täter, der das Nest beschmutzt hat, welches auch immer. Ich habe bis zum heutigen Tag weder einen Kontakt noch einen Kommentar von sportpolitischer Seite hier in der Bundesrepublik gehabt.“

    Weshalb eigentlich ?

  3. Eine Dekade jünger.
    Die Geschichte um Karin Balzer haben damals nur sehr wenige gewußt, wenn überhaupt. Die mit ihr im SCL waren schon gar nicht. Ich kann mich nur an die überraschten Gesichter nach der Wende erinnern.
    Sie ist sicherlich nicht mehr bereit, Interviews zu geben ? Wer kann es ihr auch verdenken. Ihre Familiengeschichte ist ja auch nicht einfach.
    Falk hätte bestimmt alles glätten können, aber dann wurde er selbst zum enfant terrible . Hat er denn überhaupt sein Buch geschrieben ?

  4. Erst nach der zweiten Lektüre des Artikels bemerkt: so manchen inspirierte dieser (Giengers) Opel-Typ zu seinem Mantra, aber er hieß nicht so, sondern Manta…

  5. Noch so ein feiner Fehler. Wenigstens witzig. Bin halt kein Manta-Fahrer. Nie gewesen.

    Jetzt wird’s mir allerdings zu bunt. Habe neulich schon über das undankbare Leser-Volk geschimpft, dass nicht mal derartig nette Verschreiber durchgehen lässt. Ich bin ja echt froh, dass ich im heutigen Beitrag zu den Jugendspielen beim ersten Versuch schon korrekt Monsun geschrieben habe – und nicht Monsum.

  6. Zur Frage von Herber Fischer- Solms, ob Karin Balzer hierzu noch Interviews gibt: Tut sie! Ich hab im April 2008 mehrere Stunden mit ihr gesprochen, auch mit ihrem Sohn Falk. Hieraus ist ein Aufsatz in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ entstanden:

    http://www.bundestag.de/dasparlament/2008/29-30/Beilage/007.html

    Ich freue mich wirklich sehr über das Interesse an dem Thema, die positive Resonanz und die vielfältige Unterstützung, die wir vor allem seit der Veranstaltung am 4.8. erfahren haben!

  7. @ Jutta Braun

    Zur Frage von Herber Fischer- Solms, ob Karin Balzer hierzu noch Interviews gibt: Tut sie

    Danke für die Antwort und den Aufsatz, obwohl ich der von Ihnen Vermutete nicht bin.

    Wolfgang Schmidt gehört sicherlich auch in diesen thread.

    http://wapedia.mobi/de/Wolfgang_Schmidt_(Leichtathlet)

    Er war ein Supertalent. Seine Wettkämpfe brachten zwar nicht den sicherlich gewünschten Toperfolg, dafür aber immer großes Sportkino. Wilkins und Powell können das bestimmt bestätigen.
    Schade, dass damals die Sportlerfreundschaft zwischen ihm und Udo Beyer nicht hielt.
    Was ist eigentlich aus ihm geworden ? Ist er noch Börsenmakler in San Fransico.

  8. Pingback: „Sportverräter? Fluchthilfe im deutsch-deutschen Sport“ « Michael Barsuhn

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