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Das Olympische Bildungsmagazin

Skate-Gate, Teil 2? Das Korruptionsproblem im Preis- und Kampfrichterwesen

VANCOUVER. Aus aktuellem Anlass, eine Gute-Nacht-Lektüre aus der Olympiastadt. Skate-Gate, Teil 2?

The Winter Olympics. The only time the rest of the sporting world has its eyes on this beautiful, difficult, horribly corrupt and politicized sport.

Das schreibt Sports Illustrated. Man könnte auch sagen: The Winter Olympics sind der einzige Anlass, zu dem sich Sports Illustrated, der langjährige IOC-Sponsor (Time Warner), für derlei Hintergründe interessiert: „Judge’s e-mail exposes corruption of figure skating’s scoring system“. Sonst kommt: nichts. Sportpolitisch ist SI ein Witzblatt. Aber lassen wir das, ein Seitenhieb muss reichen. Der Artikel gibt einen Überblick zur aktuellen Diskussion. Ich empfehle, einfach mal den Namen Joe Inman bei Google News einzugeben, die Suchmaschine spuckt dann etliche auch deutsche Treffer aus.

Retrospektiv möchte ich ein Kapitel aus dem Buch „Korruption im Sport“ anbieten – (fast) umsonst :)

Barbara Klimke, jetzt London-Korrespondentin, früher lange Jahre auch Eiskunstlauf-Reporterin, hat darin auf halbem Wege zwischen Salt Lake City und Vancouver im Frühjahr 2006 die Ereignisse zusammengefasst und analysiert. Ein Blick zurück kann nicht schaden, zumal in der aktuellen Affäre einige alte Namen auftauchen. Und der Präsident des Eislauf-Weltverbandes (ISU) ist natürlich noch derselbe: Ottavio Cinquanta (Italien), auch IOC-Mitglied.

Eine zentrale Figur beim Skate-Gate, Alimsan Tochtachunow, der Mafiosi und Gesprächspartner des FIFA-Präsidenten Joseph Blatter, hat hier im Blog ja längst ein Exklusiv-Revival gefeiert.

Viel Spaß. (Manches mag überholt sein, aber nicht alles. Und Zusammenhänge werden allemal aufgezeigt. Im Amateurbox-Weltverband AIBA etwa ist Anwar Chowdhry inzwischen von Ching-Kuo Wu als Präsident abgelöst. Ich habe leider keine Zeit, alles zu aktualisieren und zu verlinken.) Korruption und Manipulationen im Schieds- und Kampfrichterwesen bleibt ein Strukturproblem des Sports.

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Grüsse von der Mafia

Korruption und mangelnde Transparenz im olympischen Schieds- und Kampfrichterwesen

von Barbara Klimke

Skandal? Wieso Skandal? Vorfälle wie bei der Paarlauf-Entscheidung der Olympischen Winterspiele 2002 hatten die Eiskunstlauf-Fachleute nun wahrlich schon häufiger erlebt. Okay, nicht immer skandierten Tausende von Zuschauern in Erwartung der Höchstnote für ein favorisiertes Duo so frenetisch „Six – six – six!“ wie im Delta Center von Salt Lake City. Und nicht immer folgten nach Bekanntgabe einer unverständlich niedrigen Wertung Tumulte und wütende Proteste.

Zugegeben, ein solcher Aufruhr war peinlich bei Olympia. Aber Skandal? Dieser Sport hieß nun mal Eiskunstlaufen, nicht Kugelstoßen. Tränen gehörten da zum Geschäft wie Toeloop und Tüll. Und Tränen waren an diesem Abend reichlich geflossen bei den Kanadiern Jamie Sale und David Pelletier, die nach einer makellosen Kür nur Zweite geworden waren.

Fünf der neun Juroren hatten die Russen Elena Bereschnaja und Anton Sicharulidse auf den ersten Platz gehoben, obwohl sich der gute Anton nach einem verstolperten Doppelaxel kaum noch auf den Füßen halten konnte. Es war eine knappe Entscheidung zu Gunsten der Russen, 5:4. Aber so lief nun mal der Sport!

Mit einem Wort wie Manipulationsverdacht durfte man den Eiskunstlauf-Experten an diesem Abend nicht kommen. Auch Morry Stillwell, ein ehemaliger Präsident des US- Eislaufverbands, saß nach der Paarlauf-Entscheidung noch im West Coast Hotel von Salt Lake City an der Bar und verteidigte tapfer die Integrität der Juroren: „Verdammt, das waren die besten Preisrichter, die wir da draußen hatten“, brummte er. „Wenn die der Meinung sind, dass die Russen die Sieger waren, dann, zum Teufel, war es das richtige Resultat.“

Skate-Gate – der größte Kriminalfall der Eiskunstlaufgeschichte

Das Resultat hatten sich an jenem 11. Februar 2002 die Preisrichter aus Russland, Polen, China, der Ukraine und Frankreich zusammengezimmert. Und fast wäre es dieser Fünferbande gelungen, auch den Rest der Welt so leicht zu übertölpeln wie Morry Stillwell und seine Eislauf-Veteranen. Umstrittene Wertungen sind nichts Ungewöhnliches in diesem Sport, dessen Bewertungsmaßstab einzig die subjektive Wahrnehmung der Juroren bildet; die Szene ist an Ungerechtigkeiten gewöhnt.

So war das Paarlauf- Ergebnis kurz nach dem Wettbewerb schon auf dem besten Wege, nur als weitere Fehlentscheidung in die Annalen einzugehen, als die französische Preisrichterin Marie-Reine Le Gougne das West Coast Hotel betrat. Ihr spektakulärer Auftritt erst machte das olympische Fehlurteil zu Skate-Gate: zum größten Kriminalfall der Eiskunstlaufgeschichte.

„Ein arktischer Luftzug fegte durch die Halle, und ließ die Gespräche erfrieren“, berichtete Jon Jackson, ein Anwalt, Autor, Eislauf-Juror und Augenzeuge im Funktionärshotel. „Herein schneite die blasse, erschöpfte, pelzbehangene Marie-Reine Le Gougne.“ Sie schritt zum Lift, machte auf dem Absatz kehrt. „Es war ein Deal mit den Russen!“, rief sie unvermittelt ihren Kollegen zu. „Das Eistanzen ruiniert unseren Sport. Ihr habt keine Ahnung. Ich muss mich verteidigen. Ihr versteht das nicht. Ich musste das tun. Gold für Gold! Es war für meine Eistänzer. Ihr wisst ja nicht, unter welchem Druck man steht.“

Es war ein ungeheuerliches Geständnis. Das olympische Paarlaufen 2002 – eine Farce! Die Goldmedaillen – verschoben, bevor die Athleten überhaupt das Eis betraten. Ein mieser Betrug, ein abgekartetes Spiel: Die Russen Bereschnaja/Sicharulidse sollten, mit Hilfe der französischen Wertung, Paarlauf-Gold gewinnen, damit im Gegenzug ein paar Tage später die Franzosen Marina Anissina/Gwendal Peizerat, mit russischer Hilfe, Eistanz-Olympiasieger werden konnten. „Die Medaillen werden im Eiskunstlauf vertickt wie Baseballkarten im Kriminellenmilieu an der Straßenecke“, stellte Jon Jackson fassungslos fest.

Was er nicht ahnen konnte, war, dass selbst dieser schmutzige Deal nur einen Teil der Wahrheit offenbarte. Denn der vom Weltverband International Skating Union (ISU) verwaltete Eiskunstlauf war in einigen Teilen so korrupt, dass hinter der Fassade aus Glanz und Glitter mittlerweile offenbar die Mafia Geschäfte machte. Fünf Monate nach den Winterspielen, am 31. Juli 2002, verhaftete die italienische Polizei in Venedig den gebürtigen Usbeken Alimsan Tochtachunow, einen Freund und Geschäftspartner vieler russischer Spitzensportler und, laut Anklage der US-Behörden, eine „wichtige Figur in der internationalen eurasischen organisierten Kriminalität“, der die Verwicklung „in Drogen- und Waffenhandel sowie Autoschieberei“ zu Last gelegt wurde. Die Auswertung einiger vom FBI abgehörter Telefongespräche legte nahe, dass Tochtachunow, Spitzname „kleiner Taiwanese“, der Drahtzieher der Manipulationen im olympischen Paarlaufen und Eistanzen war.

Wie gesagt, davon wusste Jon Jackson in der Nacht des 11. Februar 2002 noch nichts, als er wie britische Eislauf-Funktionärin Sally Stapleford und zwei weitere Augenzeugen beschloss, das Geständnis der Madame Le Gougne zu protokollieren und der ISU-Führung zu übergeben. Er ahnte auch nicht, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach tagelangen Anschuldigungen und Dementis die ISU anweisen würde, zwei Goldmedaillen in Salt Lake City zu vergeben: an die Russen und an die Kanadier. Jackson hoffte nur, dass der Sumpf der Korruption endlich ausgetrocknet werden könne. Eine naive Vorstellung, wie er bald merkte.

Blaue Briefe an fünf Weltverbände

Denn Skate-Gate war nicht der letzte olympische Betrug. Bei den Sommerspielen in Athen ging es munter weiter. 12 000 Zuschauer tobten und protestierten beim Turn-Finale am Reck, weil der Russe Alexej Nemow, Liebling des Publikums, nach einer spektakulären Flugshow zwischenzeitlich Letzter war – wegen eines kleinen Wacklers bei der Landung. Der Oberschiedsrichter und der Chef des Technischen Komitees des Turn- Weltverbandes FIG korrigierten die Wertung im Tumult um einen Zehntelpunkt nach oben, doch Nemow blieb cool. Das Ergebnis sei ohnehin abgesprochen, behauptete er.

Was darunter zu verstehen war, hatten die Zuschauer wenige Tage zuvor, am 18. August 2004, in derselben Turnhalle besichtigen können, als der Südkoreaner Tae Young Yang Dritter im Mehrkampf geworden war. Die Kampfrichter hatten ihm am Barren fälschlicherweise nur einen Ausgangswert von 9,9 zugestanden – der fehlende Zehntelpunkt mehr hätte Tae Young Yang den Olympiasieg beschert, der stattdessen dem US-Amerikaner Paul Hamm zufiel. Die Fehlentscheidung räumte die FIG indirekt ein, indem sie umgehend drei Kampfrichter suspendierte. Die Südkoreaner legten Protest ein und zogen vor den Court of Arbitration for Sport (CAS), das internationale Sport- Schiedsgericht.

Dort wurde die Klage nach zwei Monaten abgelehnt, wegen eines Formfehlers: Der Protest der südkoreanischen Mannschaftsleitung in Athen war zwei Tage zu spät eingegangen. Paul Hamm durfte seine Goldmedaille behalten – sehr zum Unwillen von FIG-Präsident Bruno Grandi. Der Italiener hatte Hamm in einem Brief nahe gelegt, freiwillig aus Fairnessgründen auf seine Medaille zu verzichten. „Ein unerhörter Vorgang“, befand der US-Verband: Das sei Nötigung.

Hamm rückte sein Goldstück aus guten Gründen nicht heraus. Schließlich sind die Athleten, ob benachteiligt oder bevorzugt, nur Objekte in diesem Spiel. Für die Einhaltung der Regeln sollte ein Weltverband schon selber sorgen. So ähnlich sah es auch das IOC nach den Sommerspielen 2004. Es forderte nicht weniger als fünf internationale Fachverbände auf, ihre Regeln zu reformieren. Die Wertungen müssten dringend transparenter werden, argumentierte das IOC und verschickte blaue Briefe an die Verantwortlichen der fünf Sportarten: Turnen, Taekwondo, Fechten, Ringen und Boxen.

Beim Amateurboxen mahnen einige IOC-Funktionäre nun schon seit einem Jahrzehnt mehr Sauberkeit an: Die Boxer sind die Schmuddelkinder der olympischen Familie. Dass die Fäuste hier schneller fliegen als in anderen Sportarten, mag in der Natur der Sache liegen. Aber kein anderer Verband hat es in der olympischen Geschichte zu so vielen Krawallen, Raufereien, Sitzstreiks und Angriffen auf Schiedsrichter gebracht wie der Amateurbox-Weltverband AIBA. In den zwei Jahrzehnten, seit der Pakistani Anwar Chowdhry der AIBA vorsteht, hat sich die Lage eher noch verschlimmert. Die AIBA gilt mittlerweile als Synonym für Bestechung jeder Art, das norwegische IOC-Mitglied Gerhard Heiberg hat die Vorgänge sogar ganz öffentlich als Schande bezeichnet.

Weil alle Versuche erfolglos blieben, die für ihre Schiebungen und Fehlurteile berüchtigte AIBA zu domestizieren, entschloss sich IOC-Präsident Jacques Rogge im Sommer 2005 zu einer bis dahin unerhörten Disziplinierungsmaßnahme. Er fror die Unterstützung für die AIBA ein: eine ausstehende Teilzahlung von etwas über einer Millionen Dollar aus den olympischen Fernsehverträgen behielt das IOC zurück. Das Geld, so konnte der reformunwillige AIBA-Präsident Chowdhry einem Schreiben des IOC entnehmen, werde erst dann wieder fließen, wenn die AIBA ihre geplanten Aktionen samt einem Zeitplan vorlege.

„Verachtenswerte Verbrechen“

Dass Box-Goldmedaillen käuflich sind, hatte der ehemalige Chef der AIBA-Rechtskommission, Paul Konnor, schon 1998 dem damals von Juan Antonio Samaranch geführten IOC gemeldet. Verbunden mit dem Hinweis, dass AIBA-Präsident Chowdhry „verachtenswerte Verbrechen“ an den Sportlern begehe. Konnor legte als Beleg eine Liste verschobener Kämpfe bei. Aber über die Machenschaften der AIBA war das IOC ohnehin ja seit 1988 unterrichtet – seit der legendären Niederlage des Ausnahmeboxers Roy Jones in Seoul.

Im olympischen Halbmittelgewichts-Finale hatte der US-Amerikaner Roy Jones damals dermaßen auf seinen Gegner Park Si Hun eingeschlagen, dass nicht wenige Zuschauer dem beklagenswerten Koreaner einen Kampfabbruch wünschten. Doch als der Fight beendet war, riefen, o Wunder, drei der fünf Kampfrichter den geprügelten Park Si Hun zum Gewinner aus. Park Si Hun war über seinen Olympiasieg so beschämt, dass er Roy Jones auf Händen durch den Ring trug, zum Zeichen, dass auch er ihn als den wahren Sieger sah.

Roy Jones wurde zwar noch zum besten Boxer des Turniers gekürt; die Goldmedaille aber hatten ihm die Kampfrichter aus Marokko, Uruguay und Uganda gestohlen. Chowdhry vertraute dem damaligen AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr später an, dass einige Funktionäre die Olympiakämpfe in Korea für Geld verhökert hatten. Lebenslange Sperren, wie Wehr forderte, wies er allerdings zurück: Solch drakonische Strafen seien nicht durchzusetzen in einem Verband, der das Faustrecht förderte.

Es ist erstaunlich, wie sehr sich hier zwei Sportarten gleichen, deren Protagonisten meist nicht mehr füreinander übrig haben als ein Naserümpfen: das ruppige Amateurboxen und der elitäre Eiskunstlauf. Was die Manipulationsmechanismen betrifft, sind die Kämpfer und die Künstler, die Kraftsportler und die Kufentänzer einander allerdings näher, als ihnen lieb sein kann.

Denn clevere Boxrichter ergreifen gern mal die Gelegenheit, nicht Punkttreffer auf ihren Scoringkarten zu verzeichnen, sondern Sympathiepunkte. Unterdessen teilen die Juroren im Reich der Pirouetten ihre eigenen Tiefschläge aus. Das bis 2002 gültige, alte Bewertungssystem im Eiskunstlauf hat Tricksereien nicht unnötig erschwert – manipuliert wurde entweder durch persönliche Willkür oder durch verbotene Absprachen. Erst nach Skate-Gate sind die Regeln reformiert worden. Bis dahin waren sie, zumindest auf den ersten Blick, recht simpel: Zwei Noten, eine für Technik, eine für Stil. Dazu eine Notenskala bis 6,0. Mithilfe dieses einfachen Notensystems wurden von den Preisrichtern allerdings auch noch die Platzierungen per Majoriätswahl ermittelt.

Und damit wurde es für Außenstehende kompliziert: Denn ein Athlet konnte ohne weiteres Vierter der Kurzkür, Dritter der Kür und trotzdem Zweiter im Gesamtergebnis sein. Eine derart komplexe Wertung ist für potenzielle Betrüger perfekt – denn nur wer das System beherrscht, kann es gegebenenfalls beugen.

Ähnlich ist es im Boxen: Treffer werden hier in Hilfspunkte verwandelt und dem Getroffenen vom Punktekonto abgezogen. Aber es ist und bleibt der Punktrichter, der bestimmt, was genau ein Treffer ist. Die von Chowdhry installierte Punktmaschine hat das System zwar komplexer, aber nicht transparenter gemacht. Denn der Boxcomputer zählt nur die Treffer – nicht die Technik, nicht die Taktik – und er berücksichtigt überdies nur solche Treffer, die von drei der fünf Punktrichter innerhalb einer Sekunde per Tastendruck vermerkt werden. Wer als Punktrichter drei Mal niest, hat einen Boxer möglicherweise schon um seinen Sieg gebracht.

Amnäsie der Niedriglohnempfänger

Nicht hinter jedem Fehlurteil steckt gleich Verrat. Aber festzuhalten bleibt: Die Manipulationsgefahr ist ein sportimmanentes Problem. Überall dort, wo nicht per Stoppuhr (Schwimmen), Zielfoto (Sprint) oder Messband (Weitsprung) der Beste ermittelt wird, müssen die Befindlichkeiten eines wertenden Individuums entscheiden. Und die Athleten können nur hoffen, dass es dieses Individuum ehrlich mit ihnen meint.

Was übrigen nicht heißen soll, dass man nicht auch im Weitsprung trefflich fälschen kann: Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1987 in Rom wurden für den Italiener Giovanni Evangelisti 8,38 Meter gemessen, obwohl einige Beobachter große Zweifel an der Weite hegten. Evangelisti gewann trotzdem WM-Bronze, weil Organisationschef Primo Nebiolo eine sofortige Überprüfung untersagte. Zwei Jahre später bewies dann ein Video Evangelistis wahre Sprungkraft (7,91 Meter) und die Kampfrichtermanipulation. Der Athlet war daraufhin seine Medaille los, sechs Kampfrichter verloren ihre Jobs und Primo Nebiolo seinen Posten als Chef des italienischen Verbands. Präsident des Leichtathletik- Weltverbandes ist Nebiolo selbstverständlich bis zu seinem Tode geblieben.

Die Frage ist nun, was einen Sportsmann dazu treibt, alle Regeln des Anstands zu vergessen – und im Rahmen einer akuten Amnäsie die Regeln seines jeweiligen Verbandes dazu. Zunächst scheint es, erstaunlicher Weise, ein Ausbildungsproblem zu sein. Wer das Schiedsrichtern, wie im Eiskunstlauf, lernt, indem er andere Schiedsrichter kopiert und von diesen dann später selbst bewertet wird, der übernimmt zwangsläufig deren Eigenheiten. „Preisrichter-Klonen“, hat der Autor Jon Jackson diesen Prozess genannt, den er selbst durchlief: „Auf diese Weise erschafft man die gleichen schlechten Angewohnheiten, die vorher schon existierten.“ Später, so schreibt Jackson, lerne der Preisrichter-Neuling dann, wie wichtig es sei, „das Spiel“ mitzuspielen, also so zu werten, dass er nicht durch extravagante Notengebung auffällt unter den Kollegen.

Nur wer das Spiel beherrsche, wer die neuesten Informationen in der Szene kennt, wer nicht aus der Rolle fällt, dürfe auf eine Beförderung hoffen, um auch auf internationaler Ebene eingesetzt zu werden. Ist dieser Ausbildungsweg abgeschlossen, kommen die kleinen und die größeren Verlockungen hinzu – und schlimmstenfalls die kleinen und größeren Erpressungen. Das Schiedsrichterwesen ist in den meisten Sportarten – ob Turnen, Boxen oder Rhythmische Sportgymnastik – im ehrenamtlichen Bereich verankert.

Im Eiskunstlauf zum Beispiel gelten die Preisrichter als die letzten Niedriglohnempfänger in einem globalen Millionen-Dollar-Geschäft. Vergolten wird ihre Arbeit, neben den gängigen Aufwandsentschädigungen, mit Vergünstigungen, etwa einer Unterkunft und Verpflegung, die häufig ein paar Sterne besser ist als die der Athleten. Nicht jedem fällt es da leicht, im Ernstfall auf derartigen Luxus zu verzichten – etwa indem er sich durch eine eigenständige, faire und deshalb möglicherweise unkooperative Wertung in seinem Verband entbehrlich macht. Je nach Herkunftsland und Sportart kann das Schiedsrichter- Honorar bis zu mehreren Durchschnitts-Monatslöhnen entsprechen. Wer wird das gern riskieren?

Wie groß das Dilemma sein kann, hat Andrew Jennings am Beispiel des marokkanischen Box-Punktrichters Hiouad Larbi verdeutlicht. Larbi gehörte zu jenen drei Experten, die 1988 in Seoul den US-Amerikaner Roy Jones um Olympiagold brachten. Ein Landsmann erzählte später, dass Larbi als Lehrer in Marokko arbeite und einer seiner Vorgesetzten zufällig ein AIBA-Funktionär und Freund koreanischer Geschäftsleute sei. Und dass es nicht viel bedürfe, um eine Lehrerstelle neu zu besetzen.

„Ich will, dass du auch für mich etwas tust“

Es ist selbstverständlich unrichtig, ungerecht und unverantwortlich, alle Preis-, Ring-, Punkt-, Kampf- und sonstigen Schiedsrichter unter einen Generalverdacht zu stellen. Sowohl in der AIBA als auch im Eislauf-Weltverband ISU arbeiten honorige und aufrechte Fachleute, die immun sind gegen jede Manipulation.

Ebenso unrichtig und ungerecht wäre es zu verschweigen, dass honorige und aufrechte Fachleute die AIBA und die ISU verlassen haben, weil sie den Kampf gegen die Manipulation verloren. Unrichtig und unverantwortlich wäre es auch, den Fakt zu ignorieren, dass in diesen Verbänden stellenweise ein Klima herrscht, das Tricks und Täuschung, Gier und Arglist fördert. Dieser leichte Fäulnisgeruch der Korruption zieht Leute an, denen es um mehr geht als um einen Toeloop oder Upper Cut. Es geht ihnen auch um mehr als einen ersten oder zweiten Platz bei einem x-beliebigen sportlichen Wettbewerb. Es geht um Geschäfte etwas größerer Dimensionen.

Dies verdeutlicht ein Telefon-Protokoll aus den Akten internationaler Mafia-Ermittler. Es stammt vom 12. Februar 2002, dem Tag nach der olympischen Paarlauf-Kür von Salt Lake City:

Chevalier: „Ich rufe dich an, damit du die Mutter oder den Vater von (Marina …) benachrichtigen kannst. Alles wird jetzt gut gehen, weil die Franzosen sie dank ihrer Wertung zu Siegern gekürt haben … Es ist geschehen, es ist geschehen. Selbst wenn die Kanadier zehnmal besser waren, die Franzosen haben ihnen mit ihrer Wertung den ersten Platz gegeben. Verstehst du?“

Verdächtigter: „Ah-ah.“

Chevalier: „… und das ist mehr wert als Geld…“

Chevalier: „… Gib ihr meine russische Nummer. Sag ihr, sie soll mich über Moskau anrufen.“

Verdächtigter: „Okay …“

Chevalier: „… Ich werde es noch mal kurz erklären: Marina, ich tue es für Alek, aber ich will, dass du auch für mich etwas tust.“

Verdächtigter: „Nein, nein, das arme Kind. Sie kann für mich nichts tun.“

Chevalier: „Wenn sie es ihm wenigstens erzählen würden.“

Verdächtigter: „Sie haben mit ihm geredet, er konnte nichts tun. Marina hat darunter gelitten. Sie hätte alles getan, aber sie konnte nicht. Der Präsident hat viel versprochen, aber nichts getan, verdammt.“

Chevalier: „Der Eislauf-Präsident?“

Verdächtigter: „Ja, er hat mit einem Assistenten von Chirac studiert. Verstehst du?“

Der Telefonmitschnitt hatte anfangs wohl auch die Ermittler der italienischen Polizei und des FBI überrascht. Denn überwacht hatten sie den Verdächtigten, der als Alimsan Tochtachonow identifiziert wurde, nicht wegen des Eislauf-Skandals der Olympischen Spiele in Salt Lake City. Sondern im Rahmen einer groß angelegten europäischen Aktion gegen die Russen-Mafia, der Aktion „Spinnennetz“. Wer sich hinter seinem Gesprächspartner, dem gewissen Chevalier verbarg, blieb unklar.

Leichter war es, eine Verbindung zwischen der angesprochenen „Marina“ und jener russisch-stämmigen Französin Marina Anissina herzustellen, die sechs Tage nach dem Telefonat Eistanz- Olympiasiegerin wurde. Denn laut den Ermittlern existierten auch der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Tochatchunow und einer namentlich nicht genannten französischen Eistänzerin. Auch die Mutter der Athletin hat mit Tochtachunow geplaudert. Marina Anissina wies alle Verdächtigungen empört von sich: Sie und ihr französischer Eistanz- Partner hätten keine fremde Hilfe nötig gehabt, um Olympiagold zu gewinnen, alles andere sei verleumderisch.

Tochtachunows Anwalt erklärte die Vorwürfe nach der Festnahme seines Mandanten im Sommer 2002 in Venedig zur Farce. Der französische Eisverbands-Präsident, Didier Gailhaguet, bestritt ebenfalls jeglichen Kontakt zu Tochtachunow während der Spiele: Er habe sich nur zwei Jahre zuvor einmal mit ihm getroffen, damals sei es um die Partnerschaft für einen Pariser Eishockey-Klub gegangen.

Die Vorliebe für französische Lebensart hatte sich Tochtachunow offenbar bewahrt: Denn die US-Behörden warfen ihm vor, dass er Manipulationen der beiden olympischen Wettbewerbe vor allem mit einem Ziel betrieben habe: einen französischen Pass zu ergattern. Vielleicht erklärt dieser Umstand, weshalb die französische Preisrichterin Marie-Reine Le Gougne am Abend nach der Paarlauf-Entscheidung so hysterisch klagte, dass keiner eine Ahnung habe, unter welchem Druck sie stehe.

Geldwäsche, Drogenhandel, illegales Wettspiel

Der in Usbekistan geborene Tochtachunow besaß immerhin einen israelischen Pass. Seine internationale Laufbahn hatte er Anfang der Neunziger Jahre in Köln begonnen, wo er in der Nieler Straße lebte, offiziell als selbstständiger Kaufmann. Inoffiziell, so enthüllte die Berliner Zeitung, war er Kontaktmann für Mafiosi aus dem ehemaligen Sowjetreich, die in Westeuropa ankamen. Seit 1993 war er auf der Flucht, in Deutschland, Frankreich, Belgien und Italien. In Ermittlungsakten wird er mit allerlei Dingen in Verbindung gebracht, die primär nichts mit Eiskunstlauf zu tun haben: Geldwäsche, Drogenhandel, illegales Wettspiel.

Wie er sein Spiel damals in Salt Lake City trieb, ist nicht bis in die Einzelheiten geklärt. Tochtachunow wurde nicht, wie vom FBI verlangt, ausgeliefert in die USA, sondern zehn Monate nach seiner Verhaftung im Juni 2003 auf freien Fuß gesetzt. Er hatte vor dem höchsten italienischen Berufungsgericht gegen die Auslieferung geklagt. Bei seiner Rückkehr nach Moskau wurde er noch einmal vernommen, dann verlieren sich die Spuren.

Interessant ist, dass Tochtachunow noch mehr Bekannte im Sport hatte als den ehemalige französischen Eislauf-Verbandspräsidenten Didier Gailhaguet. Der frühere russische Tennisprofi Jewgeni Kafelnikow zum Beispiel bezeichnete Tochatchunow als seinen Freund. Wundert es da, dass der usbekische Eistanzliebhaber auch Kontakte zum Amateur-Boxverband AIBA hat, und zwar zu einem Landsmann, der nicht besser beleumundet ist, als er selbst: Gafour Rachimow?

Rachimow ist einer jener Ehrenämtler, dem die Australier zu den Olympischen Sommerspielen in Sydney die Einreise verweigerten, was weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Zwar war er damals Mitglied des Exekutivkomitees der AIBA und Chef der so genannten Business-Kommission, die die vom IOC überwiesenen Dollarbeträge verwaltet. Aber die Behörden ordneten den usbekischen Intimus des Box-Präsidenten Anwar Chowdhry doch eher als „Gefahr für die Sicherheit des australischen Volkes ein“. Die Experten für organisierte Kriminalität haben sich eingehend mit ihm beschäftigt, das FBI führte ihn sogar mit einem Bild in seiner Kartei, und russische Ermittler sagen über den Baumwoll-Zaren unter anderem, dass kein Geschäft in Usbekistan eingefädelt werden können ohne seine heimliche Zustimmung.

Der usbekische Boxsport jedenfalls nahm unter Gafour Rachimows Patronage einen ungeahnten Aufschwung. Immer häufiger profitierten die Athleten aus Usbekistan von dubiosen Urteilen der Punkterichter. Bei der Weltmeisterschaft in Budapest 1997 etwa besiegte der 19-jährige Ruslan Schagajew den Kubaner Felix Savon, einen fünfmaligen Weltmeister und zweimaligen Olympiasieger, einen der besten Boxer der Geschichte, mit einer Wertung von erstaunlichen 14:4.

Dass dem Usbeken Schagajew später der Sieg wieder aberkannt werden musste, lag allerdings nicht daran, dass die Agentur Reuters um die Welt gekabelt hatte: „Savon war das Opfer dubioser Schiedsrichter- Entscheidungen.“ Vielmehr fanden US-Journalisten heraus, dass der Amateur-Weltmeister Schagajew zuvor zweimal als Boxprofi angetreten war. Vergeblich hatte Rachimow persönlich beim damaligen AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr interveniert, um die Titel-Aberkennung zu unterbinden; vergeblich blieb auch der Bestechungsversuch des usbekischen Funktionärs Wladimir Schin.

Zwei Jahre später wurde die kubanische Boxstaffel um Felix Savon in Houston ein weiteres Mal betrogen. Diesmal unterlag der dreimalige Weltmeister im Weltergewicht, Hernandez, dem Russen Gaidalow umstritten nach Punkten. „Vier unserer Boxer wurden benachteiligt“, klagte der kubanische Delegationsleiter: „Unsere Proteste wurden vom AIBA-Präsidenten Anwar Chowdhry nicht zur Kenntnis genommen, wir ziehen nunmehr die Konsequenz.“ Kuba zog am ersten Finaltag die gesamte Mannschaft zurück. Die WM hatte ihren Eklat. Geändert hat sich seitdem: nichts.

„Immer schön bei der Wahrheit bleiben“

Die Ring- und Punktrichter werden in internationalen Wettbewerben noch immer am liebsten von Chowdhry und Konsorten persönlich ausgewählt. Eine offene Wertung, wie das IOC sie fordert, gibt es nicht. Vor Ende des Kampfes weiß das Publikum nur dann, wer in Führung liegt, falls dessen Gegner zufällig, k.o. geschlagen, alle Viere von sich streckt.

Ob der Fakt, dass das IOC die Zuschüsse eingefroren hat, zur Disziplinierung taugt, ist noch unklar. Die AIBA sei dabei, eine Software zur Auswahl der Schiedsrichter zu entwickeln, ließ Chowdhry kürzlich verlauten. Dabei sagen seine Kritiker, es würde schon reichen, er hielte die Besten nicht absichtlich zurück. Mit der offenen Wertung, teilte Chowdhry hingegen bekümmert mit, habe die AIBA vor zehn Jahren leider traurige Erfahrungen gemacht: „Die Punktrichter ließen sich von der laufenden Wertung beeinflussen und benachteiligten die Boxer, die in früheren Runden zurücklagen.“

Dennoch kündigte die AIBA nun an, dass sie bei Nachwuchs-Wettbewerben die Wertungen schon im Kampf an einer Anzeigentafel öffentlich machen wolle; dieses neue System sei ein Experiment im Hinblick auf künftige Olympia-Kämpfe. Von einer Neuerung allerdings, so merken die Verfasser des kritischen Newsletters Boxing-special unter dem Titel „Immer schön bei der Wahrheit bleiben“ süffisant an, könne keine Rede sein. Das System sei schon 1992 in Barcelona erfolgreich angewandt worden: „Das gelang, weil Herr Chowdhry, der immer ein Gegner der offenen Wertung war, in der Vorbereitung der Spiele erkrankte.“

Der vom Italiener Bruno Grandi geführte Turn-Weltverband FIG war bei der Reformierung seines manipulationsanfälligen Wertungssystems weniger zögerlich. Im November 2005 wurde ein neues Regelwerk vorgestellt, dessen wichtigste Neuerung die Abschaffung der Höchstnote 10,0 darstellte. Ein A-Kampfgericht addiert seitdem bei jedem Athleten die Punkte für die schwierigsten neun Elemente einer Kür; ein B-Kampfgericht summiert die Abzugspunkte. Gewonnen hat der Turner mit der Höchstpunktzahl – es sei denn es gibt Einsprüche. Die Argumente muss jemand, der sich betrogen fühlt, nun allerdings vor Ende der Kür des jeweils nächsten Turners vorgelegt haben. Wer nicht ganz so schnell im Kopfrechnen ist, hat seinen Einspruch möglicherweise schon verspielt.

Noch schneller als die Turnbrüder hatte Ottavio Cinquanta, Chef des Eislauf- Weltverbandes ISU, die Reform des Wertungssystems durch die Gremien gepeitscht. Kaum hatten die ersten IOC-Mitglieder dem Eistanz nach Skate-Gate mit dem Rauswurf aus dem Olympischen Programm gedroht, sah Cinquanta seine eigene IOC-Karriere gefährdet. Schon vier Monate nach den Winterspielen legte er auf dem Kongress in Kyoto seine neuen Bewertungsrichtlinien vor.

Und während die Delegierten noch glaubten, Cinquanta habe sie lediglich über ein Übergangsprojekt abstimmen lassen („It’s not a rule. It’s not a rule. It’s a project!“), wurden die neuen Regeln schon Schritt für Schritt installiert. Bei der WM 2004 wurde letztmals die 6,0 als Höchstnote vergeben, bei der WM 2005 in Moskau war das neue Computer-System bereits fest implementiert.

„Noch mehr Schutz für Ungerechtigkeiten“

Die Neuerungen im Eiskunstlauf sind allumfassend: Jeder Preisrichter ist mit einem Touchscreen-Bildschirm ausgerüstet. Aber nicht mehr jeder Preisrichter wertet mit; ein Zufallsgenerator bestimmt vor dem Wettkampf, welche neun von 14 Juroren das Panel bilden. Für den technischen Wert eines Läufers werden einzelne Elemente und Sprünge nun separat bewertet und die Punkte zum Schluss addiert. Für den künstlerischen Ausdruck gibt es ebenfalls Punkte. Sieger ist logischerweise, wer die meisten Punkte hat.

Das klingt einleuchtend und wäre es auch, hätte die ISU sich nicht gegen eine offene Wertung entschieden. Die ISU sichert ihren Preisrichtern seit Skate-Gate aber absolute Anonymität zu. Niemand weiß mehr, wie die französische Preisrichterin im Zweifelsfall gewertet hat – nicht der Athlet, nicht die Zuschauer, nicht einmal die Preisrichterkollegen. „Keiner muss mehr Verantwortung für seine Noten übernehmen“, kritisierte Sally Stapleford, die langjährige Vorsitzende der technischen Kommission der ISU, die 2002 im West Coast Hotel Augenzeugin war von Madame Le Gougnes Geständnis: „Damals wussten wir, für wen Le Gougne gestimmt hatte. Und sie wusste, dass sie sich vor den Kollegen rechtfertigen musste. Heute weiß keiner mehr etwas.“

Die ISU verteidigt die anonyme Wertung damit, dass nun kein Juror von außen mehr unter Druck gesetzt werden könne. Jon Jackson, ein weitere Augenzeuge von Salt Lake City, sagte indes: „Das bedeutet noch mehr Schutz für alle Ungerechtigkeiten.“ Transparenz sieht anders aus. Wird sich also Skate-Gate nicht mehr wiederholen? Das lässt sich leider nicht behaupten, denn einen Teil der Schuldigen hat die ISU nie zur Rechenschaft gezogen – und zwar den russischen Teil der Verschwörung.

Zwar wurde die Französin Marie-Reine Le Gougne drei Jahre als Preisrichterin gesperrt. Den damaligen französischen Verbandspräsidenten Didier Gailhaguet bannte die ISU ebenfalls drei Jahre. Eine Verfehlung von russischer Seite aber hat ISU-Chef Cinquanta niemals erkennen wollen: Weder in Salt Lake City nach dem Geständnis Le Gougnes („Es war ein Deal mit den Russen!“). Noch bei der Verhandlung in Lausanne, bei der ihm die Protokolle der Zeugen Jackson, Stapleford und des Oberschiedsrichters des Olympia-Paarlaufwettbewerbs, des US-Amerikaners Ron Pfenning, vorlagen. Und offenbar auch nicht nach der Verhaftung Tochtachunows. Die Rolle der russischen Eiskunstlauf-Funktionäre wurde niemals untersucht.

Sie machten statt dessen stramm Karriere. Beim ISU-Kongress in Kyoto, wo auch die Anonymitätswertung abgesegnet wurde, wählten die Delegierten die aufrechte Britin Stapleford aus dem Amt. Stattdessen wurde ein gewisser Alexander Lakernik zum Vorsitzenden des wichtigen Technischen Komitees gewählt. Lakernik war der russische Assistent des Oberschiedsrichters in Salt Lake City – wo er selbstverständlich die Russen vorn gesehen hatte, nicht die fehlerlosen Kanadier. Außerdem wurde Wladislaw Petschukow ins Technische Komitee befördert: Der ukrainische Sportsfreund gehörte, wie Le Gougne, zu jener Fünferbande, die den Kanadiern ursprünglich die Goldmedaille raubte.

Mord in Moskau

Für die Skate-Gate-Zeugen Jackson, Stapleford und Pfenning war die Zeit der Pirouetten hingegen bald vorbei. Unzufrieden mit der Aufarbeitung des Skandals durch die ISU hatten sie 2003 einen Gegen-Weltverband gegründet (WSF), der auf Unterstützung von Eislauf-Größen wie Katarina Witt, Scott Hamilton und der kanadischen Paarläufer Sale/Pelletier bauen konnte. Das IOC aber verweigerte dem Gegenverband die Anerkennung, der Protest lief ins Leere. Die ISU bestrafte die Abtrünnigen mit Ausschluss auf Lebenszeit; dagegen war Le Gougne mit drei Jahre Sperre weit glimpflicher davongekommen.

Und das Ende der Geschichte?

Anwar Chowdhry, 82 Jahre alt, wird 2006 vermutlich erneut für das Amt des AIBA- Präsidenten kandidieren. Er steht seit nunmehr zwanzig Jahren für eine Kontinuität der Korrumpierbarkeit im Amateurbox-Weltverband.

Marie-Reine Le Gougne, ehemalige französische Preisrichterin, hat kürzlich zu der von ihr manipulierten olympischen Paarlauf-Entscheidung Stellung genommen: „Es war nicht vergeblich, wenn es dem Eiskunstlauf zu einer Revolution verholfen hat.“ Der französische Eislauf-Verband bestätigte im April 2006, dass er damit rechnet, dass Le Gougne sich im Sommer zur Wahl des Verbandspräsidenten stellt.

Chevalier Nusujew, ehemaliger Präsident der russischen Jugendsportföderation, wurde am 29. August 2005 rein zufällig erschossen, als er ein Restaurant in Moskau verließ. Nusujew wurden Verbindungen zu dem angeblichen Mafiosi Alimsan Tochtachunow nachgesagt. Nusujew soll jener Mann gewesen sein, mit dem sich der Sportkamerad Tochtachunow am 12. Februar 2002 am Telefon so fachmännisch unterhalten hat.

29 Gedanken zu „Skate-Gate, Teil 2? Das Korruptionsproblem im Preis- und Kampfrichterwesen“

  1. Gibt es morgen ein Geschichte zum Sport- und Politikprominenz Stelldichein im Deutschen Haus? Was war denn da los?

  2. Martin Sommerfeld

    Sehr lesenswert, ich bin zwar noch nicht ganz durch, aber schonmal eine Nachfrage: Und damit wurde es für Außenstehende kompliziert: Denn ein Athlet konnte ohne weiteres Vierter der Kurzkür, Dritter der Kür und trotzdem Zweiter im Gesamtergebnis sein. Eine derart komplexe Wertung ist für potenzielle Betrüger perfekt – denn nur wer das System beherrscht, kann es gegebenenfalls beugen.

    Diese Kritik verstehe ich nicht, das ist doch bei zusammengesetzten Wertungen immer so, oder? Greg Lemond hat eine Tour de France gewonnen ohne Etappensieg – daran ist doch erstmal nichts Verwerfliches. Oder steh ich auf dem Schlauch?

  3. Martin Sommerfeld

    Zweite Frage: Der französische Eislauf-Verband bestätigte im April 2006, dass er damit rechnet, dass Le Gougne sich im Sommer zur Wahl des Verbandspräsidenten stellt.
    Ist es so gekommen? Wikipedia schweigt dazu leider. Wenn ich bei diesem Verband richtig gelandet bin, scheint es nicht geklappt zu haben?

  4. Oh, Martin, ich habe gar nicht damit gerechnet, dass jemand die Geschichte so gründlich studiert :) Da muss ich selbst googeln. Vielleicht kann Barbara Klimke, falls sie zufällig hier vorbeischaut, aber auch helfen.

  5. Wer mal einen ungeschminkten Einblick in den Sauhaufen Eiskunstlauf haben möchte, dem sei „Gebrochenes Eis, Intrigen und Intima aus der Welt des Eiskunstlaufs“ empfohlen (Egon Theiner-Verlag, Wien). Autorin ist die ehemalige Oberpreisrichterin Sonia Bianchetti (Italien). Bei der Lektüre bleibt einem die Luft weg, sagt einer, der 20 Jahre lang über diesen „Sport“ berichtet hat.

  6. Martin Sommerfeld

    Ahja, vielen Dank!
    Wir können also zusammenfassen: Man hat Madame Le Gougne etwas auf die Finger geklopft, die Karriere hat einen Miniknick hinnehmen müssen, aber im Grunde ist sie noch gut dabei. Und wahrscheinlich ist mit ihrem Auftauchen auf internationaler Bühne in Zukunft durchaus wieder zu rechnen.
    All das hätte man aus dem Kapitel ja durchaus schon ahnen können, aber schön das nochmal aktuell bestätigt zu sehen. Wobei – „schön“ war jetzt das falsche Wort. ;-)

  7. @ha Oh Gott, wenn das so eintrifft wie vorhergesagt, das wäre richtig gruselig. Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube immer noch an einen halbwegs fairen Sport.

  8. @Maria. Bei Sportarten, bei den es Preis-/Punktrichter gibt, habe ich diesen Glauben schon lange aufgegeben. Dazu kommt dann noch das Doping-Thema, welches „halbwegs fairen Sport“ schon lange Zeit in Frage stellt.

    Das der Sumpf allerdings so tief und groß ist, ist schon deprimierend. Noch schockierender ist, das es seitens der Verantwortlichen offensichtlich kein wirkliches Interesse an einer Trockenlegung gibt. Nun ja, auch das ist beim Doping nicht anders.

  9. Der ebenfalls für drei Jahre gesperrte französische Verbandspräsident Didier Gailhaguet ist im Augenblick übrigens –

    wieder französischer Verbandspräsident.

    Die kritischen Stimmen wurden aus der ISU ausgeschlossen, bei den Russen gar keine Konsequenzen (im Gegenteil) und man kann wohl nicht davon ausgehen, dass die französischen Herrschaften geläutert sind.
    Ergo darf man sich wirklich nicht wundern wenn die Medaillen weiterhin verschoben werden.

  10. Naja, ein paar objektive Aspekte gibt es ja immer, auch wenn es Wertungsrichter gibt: beim Skispringen die Weite, beim Turnen und Wasserspringen die Schwierigkeitsgrade (beim Eiskunstlauf auch, oder? Kenn mich da nicht so gut aus). Und natürlich immer irgendwelche offensichtlichen Fehler wie Stürze. Also hoffe ich mal auf eine fehlerfreie Performance von Aljona und Robin, und auf einen Sturz bei den Chinesen. So gemein bin ich jetzt mal.

  11. Ja klar gibt es auch objektive Aspekte, mal mehr, mal weniger.
    Aber z.B. kam mir beim gestrigen Buckelpistensieg des Kanadiers schon in den Sinn: Durfte der Australier (ausgewanderter Kanadier aus Vancouver weil mit kanadischen Verband zerstritten) überhaupt gewinnen? Nicht das ich Kanada diesen Sieg nicht gönne, im Gegenteil. Aber haben die Kampfrichter diesen Sieg Kanada auch „zu gern“ gegönnt? ;-)
    Da lobe ich mir (vom Doping mal abgesehen) rein technisch „abgerechnete“ Sportarten.

    Aber das ist gar nicht das Thema hier. Das Thema ist, das durch solche subjektiven „Abrechnungen/Bewertungen“, Manipulationen Tür und Tor geöffnet werden. Insbesondere zu Zeiten, bei denen der Sport bzw. entsprechende Siege/Platzierungen nicht nur für den Sportler wirtschaftlichen (und/oder politischen) Erfolg garantiert.

    Nein, mich stört nicht das z.B. ein deutscher Kampfrichter einem deutschen Sportler einen kleinen Bonus gibt, das ist kein großes Problem und gleicht sich insgesamt aus. *find*. :-D

  12. Martin, der Vergleich ist natürlich schon interessant (Eiskunstlauf-Bewertung alt/Tour).

    Der Unterschied ist aber der, dass der Radfahrer den ersten Platz in der Gesamtwertung aus eigener Kraft, dadurch dass er die schnellste Gesamtzeit erreicht, schaffen muss, während die Eislauf-Bewertung als eine Art Nullsummenspiel funktioniert hat. Genauer gesagt, das hatte ich auch ewig nicht erfasst, kam es ja auf die konkreten Noten nicht an, sondern auf die Einordnung innerhalb der Gesamtmenge an Teilnehmern. Die gute Bewertung des einen (die Zuerkennung von Platz 1 beispielsweise) geht automatisch zu Lasten der anderen, die dann eben nicht Erster sein können. Und insgesamt ging es eben darum, einen möglichst geringen Wert (Summe der Platzziffern) zu erreichen bzw. die Mehrheit der Wertungsrichter hinter sich zu haben.

    Das System ist relativ kompliziert, so dass mir erfolgreiche Manipulation gar nicht so einfach zu sein scheint. Beim Tanzen gibt es das System mit den Platzziffern noch, wobei es nicht genau gleich funktioniert. „Schwierig“ scheint mir das Ganze eben deshalb zu sein bzw. da zu werden, wo es nicht um eine Entscheidung zwischen zweien geht. Wenn also nicht der eine z. B. vier erste und drei zweite Plätze hat und der andere drei erste und vierzweite, sondern wo eben statt zweier Leute drei oder vier ins Spiel kommen, unter denen „der Kuchen“ verteilt wird.

  13. Pingback: Vancouver, Tag 4: “I don’t know if any of you have ever experienced a German Autobahn without a speed limit” : jens weinreich

  14. Martin Sommerfeld

    Danke Ralf, das mit den Platzziffern war mir zugegebenermaßen völlig unbekannt. Wobei ich sagen muss, dass mich weder Eiskunstlauf noch Tanzen als Sport wirklich interessieren, von daher ist diese Wissenslücke auch nicht weiter verwunderlich.
    Wie sich Länder hinter den Kulissen Siege und Medaillen zuschieben finde ich allerdings weiterhin hoch interessant.

  15. Wieder so eine Geschichte für die ich hier vorbeischaue. Das alles habe ich schon längst wieder vergessen, oder gar nicht erst mitbekommen damals (eher zweiteres). Aber jetzt brauche ich diesen Input, um die Spiele einordnen zu können. Nur so machen sie Spaß.

    Danke für die Erleuchtung.

    Mehr davon.

    PS: Wo ist Jean-Marie?

  16. Pingback: Derangierte Einsichten - Ohne Journalismus? Ohne diesen Journalismus!

  17. Lysacek hat ohne Vierfachsprung gewonnen, da kann sich Herr Inman ja nicht beklagen.
    Oder soll man sagen, seine Lobbyarbeit hat Früchte getragen?

  18. @nocheinjurist (#23)
    Zounds! Das liest sich tatsächlich wie eine mehr oder weniger unfreiwillig beglaubigte sportpolitische Operationstaktik vom „GOU“ (Government of Usbekistan) – oder auch wie ein Abstammungsgedicht auf den Landsmann Tochtatunov (siehe Suchfunktion hier im Blog) von=“http://de.wikipedia.org/wiki/Timur“>Timur (türk.: „das Eisen“) alias Temur Lenk alias Tamerlan dem Großen, der ebenfalls in der Gegend Taschkent/Samarkand angefangen hatte und noch heute großes Ansehen über die Region hinaus genießt.

  19. FAZ-Kommentar von Evi Simeoni: Gegen die Eis-Scheinheiligen

    Die Koreaner haben sich schwer getan mit ihrem Protest. Sie hätten, liest man, schon ein bisschen Angst vor Vergeltung. Andere koreanische Läufer könnten für den dreisten Vorstoß büßen müssen. Aber sie konnten sich wohl einfach nicht zufrieden geben mit dem allgemeinen Schulterzucken.

  20. Das eine sind die Pressemitteilungen…

    The AIBA Referees and Judging Commission has reviewed all decisions and determined that less than a handful of the decisions were not at the level expected and consequently it has been decided in accordance with the AIBA R&J Evaluation Committee that the concerned referees and judges will no longer officiate at the Rio 2016 Olympic Games.

    Andererseits wiederum, die Wahrheit ist im bzw. neben dem Ring:

  21. Pingback: live aus PyeongChang (2): Olympische Systemfragen. Die Nähe zum organisierten Verbrechen • SPORT & POLITICS

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