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Das Olympische Bildungsmagazin

live aus Rio (22): † João Havelange und der Wert von Recherchejournalismus

Foto: Nationaal Archief Fotocollectie Anefo, CC BY-SA 3.0 nl

Foto: Nationaal Archief Fotocollectie / Anefo, CC BY-SA 3.0 nl

RIO DE JANEIRO. Es klingt pietätlos, dennoch: Der Tod des letzten Dinosauriers ist exakt getimt. Die Spiele der XXXI. Olympiade hier in Rio sollten eigentlich ein Freudenfest zu seinem 100. Geburtstag werden. Nun wird es einen Trauer-Gottesdienst und vielleicht noch während der Spiele die Beerdigung geben für Jean-Marie Faustin Goedefroid de Havelange, kurz João, der gestern Nacht im Hospital Samaritano gestorben. Havelange war einer der prägendsten Figuren in der Geschichte des Weltsports. Er war der Chef eines Kartells, der Boss einer global operierenden mafiosen Vereinigung.

Havelange hat Zeit seines Lebens viele Gesetze ausgehebelt. Den Gesetzen der Natur aber konnte er nicht ewig trotzen.

Havelange, über Jahrzehnte IOC-Mitglied und lange Zeit IOC-Doyen, musste 2011 aus dem IOC zurücktreten und gab wenige Jahre später seine FIFA-Ehrenpräsidentschaft ab. Dies war letztlich der Verdienst einiger weniger Journalisten, die viele Jahre lang das kriminelle Korruptionssystem im Weltsport und hier besonders im Fußball aufspürten. In Zeiten wie diesen, da FIFA-Experten und vermeintliche Antikorruptionsexperten wie Pilze aus dem Boden sprießen, darf ich selbstbewusst daran erinnern. Andrew Jennings, Thomas Kistner und Jean François Tanda wissen, was ich meine – ohne unsere hartnäckige Arbeit gegen viele Widerstände im Sport, in der Justiz und in der Medienwirtschaft wären Mafiosi wie Havelange nie enttarnt worden. Das ISL-Korruptionssystem, zum Beispiel, wäre nie gerichtsfest dokumentiert worden.

Das bleibt.

Dass heute in weiten Teilen deutschsprachiger Medien noch immer Texte von Nachrichtenagenturen wie dpa und SID verbreitet werden, in denen es heißt, die ISL „soll Schmiergeld gezahlt haben“, nehme ich fassungslos amüsiert zur Kenntnis.

Wenn Ihnen Recherche in diesem von RICOs durchdrungenen weltumspannenden olympischen Business etwas wert ist, dann können Sie hier die komplette ISL-Schmiergeldliste (mehr als 142 Millionen CHF an Havelange & Co) einsehen, gegen eine Gebühr, versteht sich, Sie können aber auch einen Jahrespass für dieses Blog kaufen – hier im Shop – und damit sicherstellen, dass auch künftig kraftvoll zugebissen wird. Es gibt schon noch viele Havelanges, denen man auf die Finger schauen und notfalls auch hauen muss.

Exklusiv war auch das, direkt verbunden mit Havelange:

Einige andere wichtige Beiträge:

Ich werde im Laufe des Tages zum Tode Havelanges in diesem Blogbeitrag einiges ergänzen, kopiere zunächst einen leicht überarbeiteten Beitrag hinein, den ich zu seinem 100. Geburtstag im Mai für SpOn gedichtet habe. Wenn Sie die Suchfunktion oder das Tag Havelange nutzen, finden Sie mehrere Dutzend Beiträge, und zwar nicht aus dem Archiv abgeschriebene Beiträge, sondern oft exklusives, hart erkämpftes Material, das war eine mehr als zwei Jahrzehnte (seit 2008 im Blog) währende Prozessberichterstattung und Dauerrecherche.

Ironie der Geschichte: Vor wenigen Sekunden schreibt mir Patrick Nally, jener Mann, der gemeinsam mit Havelange das Vermarktungssystem der Fußball-Weltmeisterschaften aufgebaut hat, der Coca-Cola als ersten FIFA-Sponsor verpflichtet hat (das war natürlich nicht Blatter, wie dieser kürzlich in seiner Biografie behauptete), und der gemeinsam mit Horst Dassler, dem damaligen Adidas-Patron und ISL-Gründer, das olympische Vermarktungssystem kreiert hat. Habe mich mit Nally über Gegenwart und Zukunft der Olympiavermarktung ausgetauscht und wollte dazu eigentlich heute einen großen Text veröffentlichen, ähnlich umfassend wie gestern der ARD/ZDF-Beitrag, doch da macht mir und Nally der Tod des letzten Dinosauriers einen Strich durch den Tagesplan.

Lässt sich Ironie steigern, was ist das denn: Patrick Nally schreibt mir gerade, er habe heute Geburtstag – heute, da uns die Nachricht vom Tode Havelanges erreicht.

Natürlich sieht Nally fast alles anders als ich, der sich auf die dunklen, unaufgeklärten Seiten der Havelange-Ära konzentriert. Ich habe Patrick Nally um eine kurze Einschätzung gebeten. Seine Sicht auf die Dinge, als einer der Architekten der FIFA- und IOC-Vermarktung:

It’s a very sad day today (my birthday) to hear of the passing of Joao Havelange. Havelange was a true visionary and was the real architect of the Global Development of FIFA. It was his vision of a development programme to take the knowledge of Europe and South America (the only real members of FIFA in the 70”s) to Africa and Asia. By us merging his ideas with Coca Cola enabled FIFA to build the sport throughout Africa, Asia and third world soccer markets like the USA, Japan, Korea, Australia etc In his early 8 point plan it was he that wanted to expand the World Cup to involve more nations, his idea for a Women’s World Cup, an Indoor World Cup and many of the developments that has seen FIFA become the massive organisation that it is today.In those early days there was little money, he also never realised the financial magnitude that his ideas would create.

The visionary work he did with FIFA was also very instrumental in the development of the IOC as he and Samaranch collaborated closely together and much of the FIFA early development was used by Samaranch to evolve the marketing programme for the IOC.

It’s a pity Havelange has been so badly tarred with the FIFA scandal, if, as he should have been advised, had taken a salary (as he was full time) he would not have suffered in the ISL scandal. Its tragic that the actions by his son in law and other corrupt individuals have tarnished him in such a way, he had very different motives, was a genuine FIFA reformer and achieved significant success. Dassler in some ways is the person that created the bonus system on contracts, it’s a pity Havelange didn’t seek external advice as it’s my view he would never had put himself into the corrupt category as his intentions for FIFA were always objective. A pity that his legacy doesn’t record that. Perhaps his long time Executive Director could also have protected him and guided him on the correct ‘Swiss’ procedures

Es geht gleich weiter in diesem Theater.

* * *
Der Brasilianer João Havelange, Sohn eines belgischen Waffenhändlers, von 1974 bis 1998 Präsident des Fußball-Weltverbandes FIFA, hat Sportgeschichte geschrieben. Er war einer der einflussreichsten und korruptesten Funktionäre des 20. Jahrhunderts. Neben dem 80-jährigen Mexikaner Olegario Vázquez Raña, der seit 1980 als Präsident des Weltverbandes der Sportschützen agiert, zählt Havelange zu den letzten Vertretern jener Latino-Fraktion, die einst den olympischen Weltsport dominierte. Diese Paten trieben die Kommerzialisierung voran, gestalteten Sportverbände zu globalen Konzernen um und entschieden über die Austragung von Mega-Events. Zur mächtigen Latino-Combo zählten neben Havelange der Italiener Primo Nebiolo (Leichtathletik) der bereits 1999 starb, der langjährige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch, der 2010 das Zeitliche segnete, und Mario Vázquez Raña, Bruder des Schützen-Olegario, der zahlreiche Sport-Spitzenjobs hatte und Anfang 2015 verschied. João Havelange aber hat bis in die Nacht zum Stürme überlebt.

Bis vor wenigen Jahren feierte Havelange seine Geburtstage traditionell in Zürich mit alten Verbündeten. Nach zahlreichen Krankenhaus-Aufenthalten verbieten sich nunmehr lange Reisen, der Jubilar wird daheim in Ipanema Tag und Nacht betreut. Eigentlich sollte zum Hundertsten des Patrons eine große Party steigen. So hatte es im Oktober 2009 der damalige brasilianische Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva dem Internationalen Olympischen Komitee versprochen, als sich Rio de Janeiro um die Sommerspiele 2016 bewarb. Damals war Havelange für Rio erfolgreich in die Bütt gegangen, und Lula rief den IOC-Mitgliedern zu:

In sieben Jahren feiern wir bei der olympischen Eröffnungszeremonie im João-Havelange-Stadion gemeinsam seinen 100. Geburtstag.

Es ist dann das Maracana geworden, in dem die Eröffnungsfeier stattfand – ohne Havelange. Sieben Jahre und gefühlte tausend Korruptionsfälle in Sport und (brasilianischer) Politik später sind weder Lula noch Havelange vorzeigbar. Seinen 100. Geburtstag feierte Havelange in kleinem Kreis, die meiste Zeit verbrachte er zuletzt im Krankenhaus.

Joseph Blatter, den Havelange 1975 zur FIFA geholt hatte und der 1998 als Präsident seine Nachfolge antrat, flog nicht nach Brasilien – aus Angst vor einer Verhaftung bereist Blatter nur noch sichere Destinationen wie Russland und Katar. Die FIFA entsandte im Mai zum Geburtstag den Blatter-Freund Walter Gagg und Havelanges ehemalige Sekretärin nach Rio. Gagg war an der Seite des ebenfalls korrupten ISL-Schmiergeldempfängers Issa Hayatou wie immer auf der IOC-Session. Das IOC war im Mai zu Havelanges Geburtstag durch die Skandalnudel Carlos Nuzman vertreten, den Chef des olympischen Organisationskomitees ROCOG, lobt seinen alten Kumpel Havelange bis heute in höchsten Tönen preist.

Beide gehören zu jenen Cartolas, die Brasilien beherrscht und hemmungslos abkassiert.

Havelange hat als FIFA-Präsident und IOC-Mitglied über Jahrzehnte nachweislich viele Millionen Dollar von der Marketingagentur ISL kassiert und war in etliche andere Affären verwickelt. Er zählte zu den Architekten jenes globalen Korruptionssystems, deren Aufarbeitung die FIFA in ihren Grundfesten erschütterte. Vor einer Strafverfolgung in Brasilien oder in den USA, wo die Justiz den kriminellen Fußball-Klüngel zerschlägt, konnte sich Havelange an der Schwelle zum zweiten Lebensjahrhunderts nur durch sein Alter retten.

In der Schweiz hätten die Korruptionszahlungen der Agentur ISL, die Havelange als FIFA-Präsident praktisch wie Lohn empfing, durchaus zu einer langjährigen Freiheitsstrafe führen können. Doch 2010 schlossen Havelange und sein ehemaliger Schwiegersohn Ricardo Teixeira einen Deal mit der Staatsanwaltschaft, zahlten 5,5 Millionen Franken und blieben strafrechtlich unbelangt. Aus dem IOC trat Havelange nach 48 Jahren Mitgliedschaft Ende 2011 zurück und wurde deshalb kein Thema für die hausinterne Ethikkommission. Die Ehrenpräsidentschaft der FIFA gab er im Frühjahr 2013 ab – daraufhin befand der deutsche FIFA-Ethikrichter Hans-Joachim Eckert, Maßnahmen gegen den Millionenbetrüger Havelange seien „überflüssig“. Gegenüber der Schweizer Justiz hatte die FIFA unter ihrem Präsidenten Joseph Blatter schon 2004 ihr Desinteresse an einer Strafverfolgung erklärt.

In Blatters kürzlich erschienen biografischen Machwerk heißt es, Havelange habe „in finanziellen Belangen“ den Grandseigneur gespielt. „Als Präsident wollte er abgesehen von Spesenentschädigungen nie für seine Arbeit bezahlt werden. Das Geld floss trotzdem – und nicht zu knapp.“ Vom FIFA-Partner ISL. Viel mehr Details werden über das Korruptionssystem in der geschichtsklitternden Blatter-Biografie nicht genannt.

Dabei waren doch Havelange und Blatter auf vielfältige Weise mit dem ISL-Gründer und einstigen Adidas-Patron Horst Dassler verbandelt. Havelange hatte 1974 bei seiner Wahl zum FIFA-Präsidenten einen Pakt mit Dassler geschlossen. Sie begannen mit der Vermarktung der Fußball-Weltmeisterschaften, wobei bis zur Jahrtausendwende die ISL-Gruppe die wichtigsten Verträge erhielt. Nachwuchs-Weltmeisterschaften wurden eingeführt und das WM-Turnier der Männer zunächst auf 24, dann auf 32 Mannschaften ausgeweitet. Havelange hielt sein Versprechen und etablierte ein erstes Entwicklungshilfeprogramm – für dessen Umsetzung er gemeinsam mit Dassler einen gewissen Sepp Blatter auswählte und zur FIFA holte. Vier Jahrzehnte später stellt Blatter die Geschichte gern so dar, als habe er das Vermarktungssystem und die Entwicklungshilfe erfunden. Dabei hatte er zunächst nur die Aufträge von Havelange und Dassler ausgeführt.

Entwicklungshilfe im FIFA-Reich hieß jahrzehntelang allerdings auch: Geld für Stimmen auf FIFA-Kongressen – ein Geldbeschaffungsprogramm für kriminelle Offizielle.

* * *
17.32 Uhr: Ins Hospital Samaritano habe ich es leider nicht rechtzeitig zu einem Termin geschafft. Dafür habe ich erstmals so etwas wie olympische Atmosphäre kombiniert mit Rio-Atomsphäre erlebt, beim Fußmarsch aus der Metro an einigen Postos der Copacabana entlang zur Beachvolleyball-Arena. Das war angenehm entspannend. Leben. Nicht nur Beton wie draußen in Barra. Gleich ein Interview nach dem Beachvolleyball-Halbfinale.

Und gerade köstlich amüsiert: Am Tage des Todes von Havelange treffe ich hier Thomas Kistner.

Das kann kein Zufall sein.

* * *

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5 Gedanken zu „live aus Rio (22): † João Havelange und der Wert von Recherchejournalismus“

  1. Mag sein, dass das hier mit Havelange (auch) seine Berechtigung hat aber gestern ist aus meiner bescheidenen Sicht soviel passiert (Hahner-Eklat, Stabhochsprunggold mit Kommentar Poschis live „einen Monat vor Beginn der Spiele gab es keine Dopingkontrollen, man muss das dazu sagen“; der Tod Henzes, etc und noch mehr), davon finde ich nichts hier im Blog wieder. Schade!

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