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Das Olympische Bildungsmagazin

live aus Rio (1): ein Anfang mit Schrecken

BARRA DA TIJUCA. Womit belegen Teilzeit-Mitglieder der ehrenwerten olympischen Familie, dass sie dazu gehören? Natürlich mit einer Akkreditierung, zärtlich Hundemarke genannt. Ohne dieses Badge ist man – nichts.

Für Ablichtungen in passenden und unpassenden Situationen habe ich einst die Kammer des Schreckens kreiert, werde dorthin aber nicht verlinken. Also, jeder Höhepunkt journalistischen Wirkens beginnt mit Banalitäten. Das ist in Rio nicht anders. Die bittere Wahrheit:

Da hat doch vorhin so ein Schlaumeier auf Twitter gemeint, 24/7 bloggen sei nicht drin, da der Weltrekord im Wachbleiben bei 11 Tagen noch was liege. Manche nehmen das Leben aber auch allzu ernst.

Da ich nach einer wahren Odyssee über mehrere Kontinente gerade erst eingetroffen bin und Ihr da draußen besser Bescheid wisst über jüngste Entwicklungen zu unseren russischen Sportsfreunden, zu kryptischen WADA-Erklärungen, die ich erst noch studieren muss, und möglicherweise neueste Aussagen unser aller IOC-Präsidenten, der das Image des IOC, der Olympischen Spiele und das Kerngeschäft des Olympiakonzerns nicht gefährdet/beschädigt sieht, fange ich mal ganz vorn an. Oder besser: vor 24 Jahren. Mal flink notiert, was mir hängen blieb von sechs anderen Olympia-Exkursionen, fast alles ließe sich mit Links zu ellenlangen Texten untermauern, darauf verzichte ich jetzt, das will ich niemandem antun. Doch im Grunde weiß ich, dass so eine Aufzählung weiten Teilen der Leserschaft gefällt. Sind wir nicht alle ein bisschen Olympia-Liebhaber?

Was bleibt, was schießt mir durch den Kopf, woran erinnere ich mich gern oder mit Schrecken? Ad hoc (wird eventuell ausgebaut):

Barcelona 1992

  • Montserrat Caballé und Freddie Mercury. Die Hymne. Die Lasershows. Die Nächte auf dem Montjuic
  • Dagmar Hase und Astrid Strauß (Erdbeerbowle)
  • Nils Rudolph, den der DSV nach Hause schicken wollte, weil er in einem Interview mit mir, dass er widerrufen musste, über Funktionäre hergezogen war
  • Dieter Baumann
  • Ronny Weller, der nach seinem Sieg auf die Tribüne sprang, seinem Vater in die Arme, und überraschender Weise keine Toten hinterließ
  • Kevin Young, hieß er so?, der nach seinem Sieg Erschöpfung vortäuschte
  • Die Eröffnungsfeier neben einem heute sehr berühmten Reporter eines Hamburger Nachrichtenmagazins, der mir nach einer Weile zuraunte: „Wie gut, dass mein Text schon fertig ist, sonst könnte ich das hier alles noch gut finden“

Atlanta 1996

  • Das Bomben-Attentat im Olympic Parc
  • Die alberne Eröffnungsfeier, ein Wildwest-Rodeo
  • Carl Lewis, der meinte, heute wäre er für die Goldmedaille auch über den Grand Canyon gesprungen
  • Michael Johnson (siehe Kevin Young, am schlimmsten war es mit Michael Johnson aber 1999 bei der WM in Sevilla, als er 400-m-Weltrekord rannte, da saß ich neben Marie-José Perec, die den Kopf schüttelte)
  • Ich habe die Sinnhaftigkeit der Atlanta-Spiele erst später begriffen: In Sachen Nachhaltigkeit absolut top, eine Sensation im Vergleich zu allen anderen Spielen der Neuzeit, inklusive eines temporären Olympiastadions
  • Julie Pound, Gattin des heutigen IOC-Doyens Richard Pound, die leicht angetrunken verhaftet wurde und, in den Infight mit Officers gegangen ist
  • Michelle Smith De Bruijn, irische Wunderschwimmerin, wer denken konnte – und das konnte ich damals überraschend schon -, wusste, dass das nicht mit rechten Dingen zuging. Zwei Jahre später hatte ich das Glück, am Rande eines UEFA-Kongresses in Dublin jener Pressekonferenz beiwohnen zu dürfen, auf der sie ihr Dopingvergehen eingestehen musste
  • deutsche Gewichtheber, die mich angeblich im Deutschen Haus maßnehmen wollten (Namen und Einzelheiten bleiben geheim), weil ich dumme Fragen zum Doping gestellt hatte (die Geschichte erzählte mir ein Schwimmer ein Jahr darauf)
  • Der Sportchef einer deutschen Nachrichtenagentur, der mir kurz vor den Spielen zuraunte, er werde nie verstehen, wie man so eine böse Geschichte drucken könne, „jetzt, das doch endlich wieder einer von uns, ein Deutscher nah an der IOC-Spitze ist“. Der Fan, regelmäßig Tennis-Partner von Thomas Bach, wusste nicht, dass ich neben Udo Ludwig hinter der SPIEGEL-Geschichte steckte, damals standen da noch selten Autorennamen

Sydney 2000

  • Cathy Freeman, Eröffnungsshow
  • Cathy Freeman nach den 400 Metern. Ein winziges Wesen kauerte auf der Bahn, begafft von Hunderten Millionen (?) in aller Welt. Eine gigantische Last war von ihren Schulterchen gefallen. Irre, symbolhaft in jeder Millisekunde, ein Lärm, Gänsehaut, Geschichte, unvergessen
  • Heike Drechslers zweiter Sieg, womit sie irgendwie angekommen war im neuen Deutschland, und der Satz ihres Lebensgefährten Alain Blondel auf der Tribüne: „Sie ist ein Wunder, ein Wunder der Natur“
  • Ronny Weller, der auf der Pressekonferenz auf meinen Frage hin seine Anti-Dopingpässe herausholte und vor sich aufbaute, abgestützt von Wasserflaschen, während der Olympiasieger Hossein Rezazadeh so tat, als verstehe er die Frage nicht und ein anderer Medaillengewinner – ich meine, es war der Armenier Daneljian – den Saal verließ, ohne zu antworten. Ich schrieb: warten wir mal den Dopingtest ab. Drei Tage später war er die Medaille los
  • Darling Harbour
  • Kostas Kenteris, Wunderläufer, keine Zehntelsekunde habe ich dem Kameraden geglaubt

Athen 2004

  • Kostas Kenteris, Jekaterini Thanou – nach der wohl ersten Zielkontrolle ihres Lebens, angeordnet von Jacques Rogge, als Betrüger enttarnt. Endlich
  • Franziska van Almsick, welch olympisches Drama, unfassbar traurig, das Ende dieser großen olympischen Geschichte. Da fällt mir erneut ein, ich habe immer am liebsten über derlei große Momente großer Sportlerinnen geschrieben: Freeman, Drechsler, van Almsick – diese Texte, immer live, immer mit Adrenalin, immer mitfühlend, waren mir die liebsten
  • Die deutschen Handballer um Stefan Kretzschmar, die ihre Finalniederlage (wieder gegen Kroatien) würdevoll ertrugen, nie zuvor und nie danach habe ich Kerle zu tapfer eine Niederlage ertragen und auch in den blöden Interviewrunden danach ihren Mann stehen sehen. Handballer sind besonders!
  • viel mehr blieb zu Athen offenbar nicht hängen. Habe die Hymnen der Kollegen nie verstanden und geahnt und gewusst, dass das ein milliardenschwerer Last-Minute-Irrsinn war

Peking 2008

  • „Don’t mix politics with games“ (Hu Jintao, olympischer Ordensträger, Multi-Millionär oder Milliardär, Olympiagastgeber, Staats- und KP-Chef)
  • Michael Phelps
  • Usain Witzbold

London 2012

  • die deutschen Leichtathleten, im Grunde eine ganz andere, aufgeklärte, sehr kluge Generation, ich war schwer beeindruckt auch von der Debattenfähigkeit

Wundert mich jetzt doch ein bisschen, vielleicht aber logisch, dass die Erinnerungen an die ersten Jahre viel stärker und prägender sind. Ich denke, in Sachen Athen, Peking und London muss ich beim ersten Caipirinha hier nochmal nachdenken.

16.24 Uhr (alle Zeitangaben ab jetzt Ortszeit Rio/Barra – für MESZ 5 Stunden drauf): Nun ankommen, auspacken, duschen, Churrascaria, IOC, zwischendurch bloggen. Großen Text für Dienstag vorbereiten.

Any questions? Unten rein bitte – in die Kommentare, da ist ausreichend Platz.

16.31 Uhr: Da kann man mal sehen, wie ahnungslos ich hier seit Wochen vor mich her arbeite. Habe immer was von einer Eröffnungsfeier im Leichtathletik/Havelange-Stadion fabuliert. Ich Trottel. Seit vorhin weiß ich es besser, denn am Stadtflughafen SDU anzukommen und nicht am großen GIG, wie bisher immer in Rio, bildet einen vermeintlichen Experten ungemein: Anflug via Barra (Olympic Parc), Havelange-Stadion, Maracana und Maracanãzinho, da weiß Mann gleich besser Bescheid:

3 Gedanken zu „live aus Rio (1): ein Anfang mit Schrecken“

  1. London 2012 (so ziemlich das einzige, was ich live erlebt habe):

    Alexander Winokurow, keinen Zentimeter habe ich dem Kameraden geglaubt, leider hat er die Medaille bis heute

  2. Lustig, was Du da schreibst, Ralf. Denn ich könnte schwören, der Winokurow hat seine Olympiamedaille schon 2000 in Sydney ergaunert.

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