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Das Olympische Bildungsmagazin

Helmut Digel: „Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen“

Auch das gibt’s, ich bin da ganz offen und übernehme aus der aktuellen DOSB-Presse, dem Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes, gern einen Beitrag von Helmut Digel. Ich finde, das ist ein bemerkenswert sachlicher Text zum Thema, das hier seit einigen Tagen besprochen wird – und das uns, wie ich glaube, in den nächsten zwei Jahren ständig begleiten wird.

Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen

Wie soll mit ehemals in das DDR-Doping verstrickten Trainern umgegangen werden?

Von Prof. Dr. Helmut Digel (Universität Tübingen)

Für die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland öffnete sich mit dem Fall der Mauer der Vorhang zu einer Gesellschaft, in der nahezu vierzig Jahre eine Tragödie stattgefunden hat. Es wurde der Blick auf eine Diktatur geöffnet, die äußerst schillernde Züge aufwies. Vieles erschien dem Be­trachter unverständlich, Zusammenhänge konnten nicht nach vollzogen werden, Verantwortlichkeiten waren in dieser Diktatur anders geregelt als in einer offenen Gesellschaft, und viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR hatten sich mit ihrem politischen System in einem Umfang arrangiert, wie es von Beobach­tern von außen kaum nachvollziehbar ist.

Irritationen waren deshalb die Folge, und sie sind bis heute noch nicht überwunden. Manches wurde zwi­schenzeitlich offen gelegt, vieles ist auch nun für die Bürgerinnen und Bürger in den alten Ländern verständli­cher und nachvollziehbarer geworden, manches kann auch gewürdigt werden, anderes kann leichten Herzens entschuldigt sein. Harmlos war die DDR-Diktatur jedoch gewiss nicht. Tausende von politisch Ver­folgten halten ihr deshalb bis heute den Spiegel vor.

Vorschnelle Urteile über Schuld und Unschuld, über Verantwortung und Verantwortungslosigkeit verbieten sich jedoch. Denn noch immer besteht die große Gefahr, dass unwissend Urteile gefällt werden und Vorurteile weiter getragen werden. Vorschnelle und dumme Äußerungen können Verletzungen, ja auch Gräben hervorrufen, die leider auch nach wie vor be­stehen. All dies gilt für unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, es gilt aber auch für den Bereich der Kir­chen, für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, für die Wissenschaft, für die Gewerkschaften und aus na­heliegenden Gründen selbstverständlich auch für den Sport.

Seit der Vereinigung sind mittlerweile zwanzig Jahre vergangen, und aus verständlichen Gründen ist die Diskussion über Schuld und Unschuld und eine sorgfältige Aufarbeitung der Vergangenheit nach wie vor eine Herausforderung für die deutsche Gesellschaft und für die Sportorganisationen gleichermaßen. Im Sport wird diese Diskussion in regelmäßigen Abständen, meistens ausgelöst durch Pressepublikationen aus Anlass sportlicher Großereignisse, geführt. Die Diskussionen zeichnen sich durch Redundanz aus. Doch das Wiederholen kann durchaus wünschenswert sein, wenn zu viele bereit sind, das was bereits einmal öffent­lich war, zu schnell zu vergessen.

Funktionären, Trainern, Betreuern und immer seltener den Athleten der ehemaligen DDR werden dabei Vorwürfe gemacht, die zum einen auf deren mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit zielen, zum anderen geht es dabei um den systematischen Doping-Missbrauch in der ehemaligen DDR, in den die meisten heute noch aktiven Trainer, die ihre Ausbildung und ihren Beruf im System der DDR erlernt und ausgeübt haben, in direkter oder indirekter Weise eingebunden gewesen sind. Neue Erkenntnisse sind durch die derzeit stattfindende Diskussion dabei kaum zu erwarten.

Dank der Verdienste von Prof. Franke und Frau Berendonk und weiterer wissenschaftlicher Arbeiten wurde ein Einblick in das System des Dopings der ehemaligen DDR gewährleistet, das eine eigene Sprache spricht. Für das menschenverachtende System der DDR waren nicht einmal Kinder schützenswert. Ohne Wissen der Kinder und ihrer Eltern wurden ihnen Medikamente zur Steigerung der sportlichen Leistung verabreicht. Hierbei wurden wissentlich Körperverletzungen in Kauf genommen. Fast sämtliche olympische Athleten wurden in ein System der systematischen Leistungsmanipulation eingebunden.

Sportliche Spitzen­leistung wurde auf der Grundlage eines sorgfältigen wissenschaftlichen Kalküls erreicht. Die Parteispitzen, an der Spitze der Staatspräsident der DDR und die Parteivorsitzenden, die Präsidenten des Deutschen Turn-und Sportbundes, die Präsidenten der olympischen Fachverbände, deren Präsidien, die Cheftrainer, Trainer, Sportdirektoren und allen voran Ärzte, Sportmediziner und Trainingswissenschaftler, nicht zuletzt aber auch die Athleten selbst haben dabei direkt oder indirekt Schuld auf sich geladen. Sie haben dabei sys­tematisch das Prinzip des Fair Play verletzt, zu dem das Verbot des Dopingbetrugs und der Leistungsmani­pulation grundlegend gehören. Internationale Wettkämpfe wurden auf diese Weise zu einer Farce.

Zu Recht fühlen sich alle Konkurrenten, die in sauberer Weise ihren Hochleistungssport betrieben haben, durch ihre ehemaligen Konkurrenten betrogen. Dabei ist es eher eine nachgeordnete Frage, ob die manipulierten Athleten der ehemaligen DDR wissend oder unwissend an diesem Betrug beteiligt waren.

All dies ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Bekannt ist auch, dass viele westliche Funktionäre und Verant­wortliche im Sport diese Betrugssituation nur mit einem Augenzwinkern betrachtet haben. An einer wirkli­chen Aufarbeitung des Betruges, der ja nicht nur in der DDR, sondern in vergleichbarer Weise in der alten Bundesrepublik angetroffen werden konnte, war kaum jemand wirklich interessiert. Versuche zur Auf­arbeitung hat es wohl mehrfach gegeben. Doch keiner dieser Versuche wurde konsequent zu Ende geführt. Vor allem war keine dieser Bemühungen darauf angelegt, dass man dann, wenn man die entsprechende Aufarbeitung geleistet hat, eine Perspektive für einen Neuanfang gefunden worden wäre, an dem sich möglichst alle beteiligen können.

Nicht zuletzt wegen dieser Versäumnisse hat die Diskussion über den Dopingbetrug der ehemaligen DDR den Charakter einer „unendlichen Geschichte“. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass die Frage der Beschäftigung von Personen, die mehr oder weniger in das DDR-System eingebunden waren, in den politischen Parteien, in den Medien, in der Verwaltung, in der Justiz und im Bildungssystem offensichtlich kein besonderes Thema mehr ist.

Angesichts der aktuellen Diskussion über DDR-Trainer, aber auch angesichts der Diskussionen, die in den vergangenen zwanzig Jahren in Bezug auf diese Thematik geführt wurden, stellt sich nun die Frage, wie man diese „unendliche Geschichte“ zu einem Ende bringen kann. Es stellt sich vor allem die Frage, wie von den Organisationen des Sports die Menschen, die in der ehemaligen DDR groß geworden sind, dabei Verantwortung im Sport übernommen hatten und nunmehr im deutschen Sport gerne mitarbeiten möchten, zu behandeln sind. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass eine Dauerbeschäftigung, um die es ja in der Regel geht, für Trainer und Experten der ehemaligen DDR möglich ist?

Eine kleine Minderheit in unserer Gesellschaft vertritt die Auffassung, dass jemand, der schwere Schuld auf sich geladen hat, keinen Anspruch auf eine Rückkehr in die Gesellschaft hat. Eine große Mehrheit vertritt die Auffassung, dass nach einer angemessenen Strafe, einer entsprechenden Resozialisierung und bei einem Eingeständnis der Schuld eine Rückkehr in die Gesellschaft möglich ist. Eine dritte Gruppe vertritt eine ähnliche Auffassung, glaubt jedoch, dass ein Schuldeingeständnis nicht notwendige Voraussetzung sein muss, um in die Gesellschaft nach entsprechender Bewährung resozialisiert zu werden.

Die Fälle der ehemaligen DDR Trainer, die in diesen Tagen diskutiert werden, sind jedoch schwieriger. Sie haben in der Regel Schuld durch ihre Tätigkeit im Hochleistungssport der ehemaligen DDR auf sich ge­laden, und sie haben weitere Schuld auf sich geladen, weil sie unmittelbar nach der Wende bei den sei­nerzeit durchgeführten Befragungen leugneten, in das Dopingsystem der ehemaligen DDR eingebunden ge­wesen zu sein. Den meisten fiel es offensichtlich schwer, ihre Lüge zu korrigieren. Bei allen späteren Befragungen, das gilt auch für die von ihnen abverlangte Ehrenerklärung vor den Peking-Spielen, die vor dem Hintergrund der offen gelegten DDR Geschichte lediglich den Charakter eines Alibis für die verantwortli­chen Verbände haben konnte, wurden diese Trainer immer wieder erneut von ihrer Schuld eingeholt. Eine Strafe für ihre Taten haben die Betroffenen bis heute jedoch noch nicht verbüßt, sie sind vielmehr ohne jede Unterbrechung vom alten System in das neue System übergewechselt und haben somit meist gar keine oder nur geringe Nachteile durch ihre Taten aus der Vergangenheit in Kauf nehmen müssen.

Wie man der Gerechtigkeit durch das Recht in dieser Situation zu ihrem Recht verhelfen kann, ist eine schwierige Frage. Weder eine Amnestie scheint dabei der angemessene Weg, noch wäre zu empfehlen, dass man ohne eine grundsätzliche Entscheidung einfach so weiter macht wie bisher. Es stellt sich somit die Frage, unter wel­chen Bedingungen verzeihen möglich sein könnte.

Für mich ist es dabei wichtig, dass man zwei Güter einer besonderen Abwägung unterwirft. Wie wichtig ist das Eingeständnis einer Schuld und wie wichtig ist eine überprüfbare Bewährungszeit, um zu der Entschei­dung zu gelangen, dass jemand auch zukünftig zum hauptamtlichen Personal des deutschen Sports gehören darf.

Ich habe mich als verantwortlicher Funktionär im deutschen Sport in der Zeit zwischen 1990 und 1994 mit dieser Frage zum ersten Mal auseinandersetzen müssen. Es ist mir dabei relativ leicht gefallen, jenen Funktionären, Trainern und Athleten der ehemaligen DDR zu verzeihen, die offen zu ihrer Vergangenheit sich geäußert haben, die sich zu ihrer Schuld bekannten, die in gewisser Weise indirekt um Verzeihung gebeten haben. Diese Trainer und Experten in dem Hoheitsbereich, für den ich verantwortlich war, weiter zu beschäftigen, war für mich deshalb keine besondere Gefahr. Ich sah es als meine wichtigste Aufgabe, diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine neue Chance zu eröffnen.

Ich konnte in diesen Jahren in gewissem Umfang auch Haltungen von Funktionären, Trainern und ehema­ligen Athleten nachvollziehen, die sich angesichts der Konfrontation der beiden Systeme in der Zeit des Kalten Krieges weiterhin zum System der DDR bekannten. Zu akzeptieren war auch die Haltung jener Trainer, die sich entschieden hatten im neuen gesellschaftlichen System der BRD nicht mitzuwirken, weil sie die Auffassung vertraten, dass ihr altes dem neuen System überlegen sei. Einige von diesen sind ausgewandert und arbeiten in ausländischen Sportsystemen. Angesichts ihrer Vergangenheit stellen sich dabei manche neuen Fragen, die jedoch nur von deren Arbeitgebern zu beantworten sind. Eine Beschäftigung in den neuen Sportorganisationen nach der Wende war für solche Menschen keine Frage, und für meinen Ver­band stellte sich diesbezüglich keine Frage der Verantwortung.

Sehr viel schwieriger war die Situation bei all jenen, die sich nicht zu ihrer Schuld bekennen wollten, die sich eher als Mitläufer deklarierten. Bei vielen dieser Trainer stellte sich deshalb die Frage, unter welchen Be­dingungen können Trainer, die sich bereits in einem Arbeitsverhältnis mit dem Verband befanden, aus diesem Arbeitsverhältnis entlassen werden, bzw. unter welchen Bedingungen sollten sie weiter beschäftigt werden. Hier gab es aus meiner Sicht keine Alter-native, als der juristischen Expertise der so genannten Rei­ter-Kommission des Deutschen Sportbundes, der Evers-Kommission des Deutschen Sportbundes und der eigenen Juristenkommission im Deutschen Leichtathletik-Verband zu folgen. Es waren daher vor allem auch arbeitsrechtliche Erwägungen, die zu bedenken waren.

Unter dem Aspekt der Gerechtigkeit, unter dem Aspekt von Schuld und Unschuld konnte man mit diesem Verfahren allerdings dem Problem nur bedingt ge­recht werden. Oft waren es wirtschaftliche Erwägungen, die dazu geführt haben, dass man einen Trainer weiter beschäftigte oder sich der Verband mit einer Abfindung von ihm trennte, weil sich die Verantwortli­chen in den jeweiligen Präsidien der Verbände Haftungsproblemen gegenüber sahen, für deren Lösung sie keine Wege kannten.

Für mein Präsidium war es dabei vor allem wichtig, dass sich alle jene, die weiter beschäftigt wurden, auf einen gemeinsamen Anti-Dopingkampf verpflichten ließen und dass sie ihre Bereitschaft erklärten, gemeinsam mit den Trainerinnen und Trainern des Westens und gemeinsam mit dem Präsidium des Deut­schen Leichtathletik-Verbandes sich engagiert im Anti-Dopingkampf zu beteiligen. Es lag nun an den Traine­rinnen und Trainern, sich zu bewähren, Gleiches galt für jene Verantwortlichen in den Landesverbänden, und noch wichtiger war: Es galt auch für die Athleten.

Betrachten wir aus der Sicht von heute, nach einer Zeit von fünfzehn Jahren leichtathletischer Entwicklung die Situation, so kann mit gutem Recht behauptet werden, dass die große Mehrheit der ehemaligen DDR-Trainer diese Bewährungsprobe bestanden hat. Fast alle Trainer der ehemaligen DDR haben sich durch eine fachkompetente Arbeit ausgewiesen und waren bereit, sich in den Anti-Dopingkampf des DLV ein­binden zu lassen. Es gab und es gibt keine Indizien, dass sie an dem weltweit stattfindenden systematischen Dopingbetrug weiterhin beteiligt sind.

Die Dopingfälle, die im Deutschen Leichtathletik-Verband in den vergangen zwanzig Jahren angetroffen wurden, sprechen allerdings auch eine andere Sprache. Zumindest eine kleine Minderheit der Athleten, Trainer und Experten hat offensichtlich die Lektion der Vergangenheit nicht gelernt, hat die Bewährungs­probe nicht bestanden, war und ist Teil des systematischen Dopingbetruges. Dies gilt allerdings glei­chermaßen für Ost und West, für Nord und Süd. Der Fall Breuer/Springstein und viele weitere überführte Fälle sprechen dabei ihre eigene Sprache. Man muss auch heute noch davon ausgehen, dass es in Deutsch­land Athletinnen und Athleten gibt, die zum Dopingbetrug bereit sind. Vermutlich sind sie dabei in systema­tische Betrugsnetze, an denen Ärzte, Pharmazeuten, Manager, Trainer und Funktionäre beteiligt sind, einge­bunden und betrügen auf diese Weise ihre Gegner systematisch. Die Minderheit ist deshalb ebenso zu beachten wie die große Mehrheit, will man zu einer tragfähigen politischen Entscheidung in Bezug auf das hier diskutierte Doping-Problem zu kommen.

Für mich haben meine eigenen Beobachtungen als Funktionär im Deutschen Leichtathletik-Verband wäh­rend der Wettkämpfe, bei Trainingslagern, meine Gespräche mit den verantwortlichen Trainern, meine aktive Beteiligung am System des Hochleistungssports zur Folge, dass ich einen Anstellungszeitraum von fünfzehn Jahren, in dem sich diese Trainer nichts haben weiter zu Schulden kommen lassen, besonders gewichten möchte. Zwar wäre gewiss ein Schuldeingeständnis der Betroffenen in diesen Tagen eine hilf­reiche und wünschenswerte Brücke gewesen, um die notwendige politische Entscheidung herbeizuführen. Aber es stellt sich auch die Frage, welche Qualität ein derartiges Schuldgeständnis nach zwanzig Jahren überhaupt noch haben kann.

Mit populistischen Solidaritätsbekundungen zu Gunsten der ehemaligen DDR Trainer kommt man jedenfalls in dieser Sache nicht weiter. Wenig hilfreich und kaum durchdacht sind auch die Empfehlungen zur berufs­ständischen Selbstregulation durch die Trainer, und geradezu zynisch und unverschämt sind Beleidigungen der Opfer, die mit den Folgeschäden des Dopings ein Leben lang zu leben haben. Solche Äußerungen deuten eher darauf hin, dass es leider noch viel zu viele Athleten und Athletinnen und teilweise auch deren Trainer gibt, die die ethisch-moralischen Grundlagen des modernen Hochleistungsports nicht verstanden haben.

Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob die Forderung nach einem Schuldeingeständnis realistisch ist? Was wäre geholfen, wenn deklarative Schuldgeständnisse erfolgen würden, deren Glaubwürdigkeit jedoch unserem Belieben überlassen würde. Ist die Forderung nach Schuldeingeständnissen nicht manchmal auch eine versteckte Form der Abrechnung? Es sollte doch möglich sein, wenn man einen Trainer über fünfzehn Jahre hat beobachten können, diesem zugestehen, dass er mit seiner Schuld lebt, ohne dass er sich öffent­lich immer wieder von neuem zu rechtfertigen hat. Dabei muss man leider akzeptieren, dass es Fälle gibt, wo die Betroffenen bis heute ihrer Schuld nicht bewusst sind oder sie verdrängen.

Wägt man die beiden Güter gegeneinander ab, so könnte man zu einem Verzicht auf ein Schuldeinge­ständnis dann bereit sein, wenn die Betroffenen den glaubwürdigen Nachweis erbracht haben, in einem Sportsystem, das auf den Erhalt des Fair Play und der Unverletzlichkeit der Menschenwürde ausgerichtet sein muss, engagiert und aktiv mitzuarbeiten. Deshalb sollte, um es am aktuellen Beispiel praktisch zu ma­chen, der betroffene Trainer weiter beschäftigt werden können. Die Schuld, die er sich ohne Zweifel aufge­laden hat, muss er allerdings tragen. Was dies für ihn bedeutet, entzieht sich unserer Beurteilung. Für die Verantwortlichen des deutschen Sports bedeutet dies, dass allerdings nur in der Frage der Anstellung und Beschäftigung von Verantwortlichen des ehemaligen DDR-Systems im neu geschaffenen deutschen Sport­system eine Art Schlussstrich gezogen werden muss.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit kann und darf damit jedoch nicht beendet werden. Das von DOSB-Präsident Dr. Bach vorgeschlagene Forschungsvor­haben zur Aufarbeitung des Dopingbetrugs in der ehemaligen BRD ist hierzu ein grundlegender Beitrag. In gewisser Weise kommt der Vorschlag, auf ein ausdrückliches Schuldeingeständnis zu verzichten, einer Teil-Amnestie gleich. Angesichts des langen Zeitraums von 15 Jahren, in denen sich die betroffenen Trainer nichts zu Schulden haben kommen lassen, erscheint die Strafe hoch genug zu sein, wenn die Betroffenen mit ihrer Schuld zu leben haben, massiv gegen das Fair Play-Gebot und gegen die Unverletzlichkeit der Menschenwürde verstoßen haben. Dies kann ihnen niemand abnehmen.

54 Gedanken zu „Helmut Digel: „Die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen““

  1. Nö, die Verganenheitist ist noch lange nicht abgeschlossen. Und wenn Prof. Digl jetzt noch festgestellt hätte, dass in der alten BR es auch Verzerrungen sportlicher Leistungen durch Doping gegeben hat, und diese noch einer abschließenden Aufklärung bedürfen, dann hätte ich fast an ihn geglaubt. Aber so. Die DDR-Sportler waren die Betrüger und alle anderen wurden betrogen. Da hätte ich vom altgedienten Prof. mehr erwartet als die Vertiefung der weiteren Einseitigkeit der Diskussion. Aber wahrscheinlich – er ist ja ein sportlich Allwissender, der auch schon diesbezüglich moderatere Töne von sich geschrieben hat – kann auch für ihn nicht sein, was nicht sein darf. Vielleicht müssen wir doch auf eine neue Funktionärsgeneration im deutschen Sport warten.

  2. Digel … Ist das nicht der, der Springstein so geschätzt hat, dass der unter seiner Ägide zum „Trainer des Jahres“ wurde? Der, in dessen Regentschaft als DLV-Präsident überhaupt so unglaubliche Aufklärungsanstrenungen unternommen wurden? Dieser China-Freund, der Journale herausgibt, die aus dem Pekinger Propagandaministerium kommen könnten? Hier ist er der, der es fertig bringt, die Verbände wegen der Ehrenerklärungen zu kritisieren (was richtig ist) und andererseits der, der Thomas Bach lobt, in dessen DOSB diese grauenhafte Idee entstanden ist.
    Ich finde einen solchen Beitrag zynisch – ein Einerseits-Andererseits. Ich sehe keinen dieser Trainer, der es sonderlich schwer hätte, „mit dieser Schuld zu leben“, auch keinen, der sich bei seiner früheren Versuchskaninchen je entschuldigt hätte. Wer eine solche Ehrenerklärung unterschreibt, ist davon weit entfert, das jemals zu tun.

  3. Prof. Digel sagt immerhin auch folgendes:

    Bekannt ist auch, dass viele westliche Funktionäre und Verant­wortliche im Sport diese Betrugssituation nur mit einem Augenzwinkern betrachtet haben. An einer wirkli­chen Aufarbeitung des Betruges, der ja nicht nur in der DDR, sondern in vergleichbarer Weise in der alten Bundesrepublik angetroffen werden konnte, war kaum jemand wirklich interessiert.

  4. Herbert, ha: Hab’s jetzt zwei Mal gelesen und gebe Euch in allen Punkten Recht. Und zu Ralf: Der kleine Absatz in die andere Himmelsrichtung ist ein bisschen dünne, ebenso wie die Lobhudelei in Richtung des UDIOCM, der 20 Jahre lang Zeit gehabt hat, um als IOC-Mitglied, IOC-Vize, DSB-, NOK-Führungskraft und DOSB-Präsident mehr einzuleiten.

  5. Helmut Digel sagte auch:
    „In der DDR wurde systematisch und menschenverachtend gedopt, in der Bundesrepublik nur menschenverachtend.“
    Hat er deshalb kein Sportamt mehr?
    http://www.wissenswerkstatt.net/2007/05/31/aerzte-im-schafspelz-die-freiburger-sportmedizin-dopingarrangements-im-spitzensport-iii/

    Zur Systematik im Westen gibt es leider keine Dokumente,weil sich der BND dafür nicht interessierte.

    Herr Digel formulierte vorsichtig,obwohl er alles weiß.Wieviel ehemalige Richter und Kommissare wollen wir denn noch in Kommissionen beschäftigen,um dieses Ost-West Trauma wegzuschieben?
    Die armen Jungs sollen für unser Wohlbefinden herausarbeiten,dass es zwischen verbrecherisch und verbrecherisch oder zwischen menschenverachtend und menschenverachtet noch demokratische Unterschiede gibt?

    Der alte Coubertin würde sich im Grabe umdrehen,wenn er davon erführe.Herr Digel wird ja auch für seine China Äußerungen kritisiert.Coubertin hat keinesfalls gesagt,dass erst dem Staat eine wohlgefällige Demokratie zu schenken sei,um dann völkerverständigende Sportwettkämpfe zu organisieren.

    Vielleicht bergreifen es wenigstens die Politiker bald,dass sich eine Diktatur erst zu öffnen beginnt, wenn sie völkerrechtlich respektiert wird.Die ehemalige DDR kann ein Lied davon singen,aber ein unblutiges.
    Der Irak bekommt ja z.Z. seine Demokratie.
    Die Kommunisten hatten auch solche Ideen,sie nannten es Export der Revolution.Opfer waren da auch nebensächlich.
    Deswegen sollten Sportjournalisten auch etwas von Diplomatie verstehen.

  6. @ ha,ich lese erst seit 1,5 Jahren diesen Dopingscheiß,wie das hier schon ausgedrückt wurde.
    Zu den Berliner Dopingprozessen,die damals von mir nicht wahrgenommen wurden,las ich,dass in der DDR das Doping mit Testosteron(mehr hatten die nicht,manche denken ja mittlerweile die DDR hat das EPO erfunden)von einer Kommission aus Äzten für jeden Sportler festgelegt wurde,sicher nach eingehenden Studien darüber.Ein DDR Trainer hatte damit nichts zu tun,er gab nur die Pillen weiter,denke ich.Natürlich wußte jeder was drin war.Sie wurden aber ,wie in jedem Land mit dem Hinweis weitergegeben,dass dies alle nehmen.Trotzdem war Springstein ein sehr guter Trainer.Nach der Wende brauchte er diesen Umweg nicht mehr,dank seiner Kenntnis,seinen Zielen und der aufkommenden Internet Apotheke.Im Sport ist es ganz einfach,hat der Trainer keine Ergebnisse vorzuweisen,fliegt er.Prof.Bette könnte das besser erklären.

    Zur Weitergabe:

    Interview in der Mittelbayerischen Zeitung vom 6. Dezember 2008

    Wenn man so lange im Radsport tätig ist, begegnet man da automatisch Doping?

    Meine beiden Söhne Markus und Matthias waren ja im Nationalkader. Mein ältester Sohn Markus hat dann alle sechs Wochen einen Umschlag mit Tabletten von der Uniklinik Freiburg zugeschickt bekommen. Er sagte dann aber: Das nehme ich nicht! (die MZ berichtete) Da weiß ich ja nicht, was drin ist. Ich selbst wäre damals darauf reingefallen und hätte die Tabletten geschluckt. Ein anderes Mal sind mein Mann und ich zur Deutschen Meisterschaft nach Gera gefahren. Damals war gerade der Festina-Skandal (Rad-Team, das während der Tour de France 1998 des systematischen Dopings überführt wurde/d. Red.) das große Thema. Ich habe mich ganz erschüttert an einen der Trainer, das war Mario Kummer (damals bayerischer Landestrainer, später sportlicher Leiter bei den Teams Telekom und T-Mobile), gewandt. Der meinte aber nur, wie blauäugig ich denn sei, zu glauben, dass es hier einen gibt, der nicht dopt. Das muss jeder mit seinem Körper verantworten, es geht ja um viel Geld, hat er gesagt. (…)

    Die zuständige Kommission hatte zu Markus Willfurth natürlich nichts gefunden,dieser mußte bei Weibel gehen,weil er sich nicht helfen ließ,das hieß nicht teamfähig,also nichts nahm.Weibel war auch nur der Überbringer,in dem Fall für unseren Olympiaarzt Herrn Huber.
    Zu der Zeit war die DDR fast 10 Jahre Asche.

  7. @ Walter: Danke für Ihre Offenheit. Habe mir mal erlaubt, das Zitat aus dem Kurzinterview auch als solches zu kennzeichnen.

  8. Es gibt auch ein ausführliches Interview mit Markus Wilfurth. Leider funktioniert das Blättern nicht mehr einwandfrei, deswegen hier die einzelnen Seiten des Interviews: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7

  9. @JW,Offenheit?,früher hätten sich mir vor Schreck die Nackenhaare aufgestellt;-)
    Steht doch alles in allen möglichen Zeitungen und Blogs.Nur haben wir heutzutage keinen mehr,der Zusammenhänge darstellen kann.Als Prof. würde ich mir nach 30 Jahren blöd vorkommen,mich mit Kleinkrieg zu beschäftigen,den habe ich fertiggemacht,den habe ich fertiggemacht…. .

    Irgendwann muß man doch das System dahinter erkennen? Und möglichst noch so,ohne den Sport zu zerstören?

    Irgendwann Juli/August 2007 sah ich mir das aktuelle Sportstudio mit Poschmann an.Scharping war zu Gast und sagte sinngemäß „… das ist viel zu wichtig,als dass wir das in der Öffentlichkeit klären können..dass sich noch jemand das Leben nimmt…da wurde 1987 mit öffentlichen Mitteln in Freiburg untersucht,wie wirkt denn das Zeug(Testosteron) auf die Leistung von Sportlern,in dem Fall bei den Nordischen … und heute soll ich den selben Menschen sagen,dass sie falsch handelten und ihr Leben zerstören für etwas ,was damals gang und gäbe war ?…“

    Ich dachte ,der erste Funktionär,der die Wahrheit sagt-ist aber nie mehr vorgekommen- Poschmann dachte wahrscheinlich nichts und merkte es nichtmal.
    Leider finde ich den Eintrag in der Mediathek des ZDF nicht mehr.

    Habe hier leider keine Gebrauchsanleitung gefunden,um Zitate hervorzuheben.

    Ach so Frau Willfurth ist inzwischen Präsidentin des Radverbandes Bayern,wie das Leben so spielt.

  10. Walter: Ich habe etwas missverstanden. Ich hatte das Zitat „Meine beiden Söhne Markus und Matthias waren ja im Nationalkader“ Ihnen zugeschrieben. Ein Irrtum, deshalb die Bemerkung zu „Offenheit“.

  11. @Walter
    Dass Springstein ein guter Trainer war, ist eine gewagte Behauptung. Gibt es eine „erfolgreiche“ ungedopte Sportlerin von ihm? Mir ist ein solcher Fall nicht bekannt.

    Die DDR hat Epo nicht erfunden, aber Anfang der 70er Jahre mit Eigenblutdoping experimentiert, zum Beispiel bei Cierpinski. Auch eine nette Wiederbelebung. Zum Testosteron: Das haben Ärzte in der Tat gespritzt, auch Frauen/Mädchen, im Wissen, dass es Körperverletzung war. Zu den Trainern: Es hat auch ein paar gegeben, die das nicht mitmachen wollten, Henner Misersky das bekannteste Beispiel.

    Mario Kummer ist exemplarisch dafür, wie anschlussfähig die DDR-Mentalität war, nicht nur im Radsport. Die haben sich halt nach 1989 wie zuhause fühlen können – und sind auch wegen dieser Qualifikationen geholt worden. Keine Wieder-, eine Neuvereinigung.

  12. ha,zu Springstein ,weder von ihm noch von anderen,im Leistungssport gab es das damals wohl nicht.Aber es wird ja alles gut.Im Moment warte ich auf die Goldmedaillenübergabe Olympia 2000 von M.Jones an Thanou;-)

    Mit Eigenblut,war übrigens damals kein Doping-war also erlaubt,experimentierten zuerst die Finnen und dann alle anderen,den Kaiser könnte man da auch fragen.

    Das DDR-Testosteron waren meines Erachtens Pillen.Eigneten sich also hervorragend zum Überbringen.Da heute vor Gericht Testosteron als normales Medikament behandelt wird,ist die Hemmschwelle entsprechend niedrig für Ärzte.

    Wissen muß man auch,dass diese „medizinische Behandlung“ im Training ausdrücklich seitens der medizinischen Kommission des IOC erlaubt war,also gang und gäbe.Ab wann waren Trainingskontrollen angesagt?

    Was hat Mario Kummer jetzt damit zu tun???Er hat nur seine Meinung zur Festinaaffaire gesagt.Und ich gehe davon aus,dass er als bayrischer Landestrainer keine Pillen an seine Schützlinge weitergab.Diese bekamen Nationalkader von Herrn Huber.Oder die U23 Team Nürnberger angeblich von Herrn Sprenger,was aber durch Gerichtsurteil doch ncht so war.Der Zeuge muß sich getäuscht haben,hoffentlich wird er von Herrn Sprenger nicht noch verklagt.

    Da ab und zu Journalisten fachkundige Artikel schreiben,kann man sich durchaus in den Medien informieren.

  13. @Walter
    Die Fakten:
    Oralturinabol und anders hießen die Pillen. Reines Testoreon gab es dazu in Spritzen. Und dazu Epitestosteron, damit es bei WK-Kontrollen nicht auffiel. So viel zum internationalen Verbot.

    Exakter: Anabolikadoping war seit 1970 in der Bundesrepublik und seit 1974 vom IOC verboten, auch im Training. Wettkampfkontrollen gab es international seit 1974 (erste Gesperrte 1976 in Montreal), Trainingskontrollen kaum, mehr erst seit Ben Johnson 1988.

    In der DDR durch das Arzneimittelgesetz seit Mitte der 60er – die Basis der Verurteilungen in den Dopingprozessen. Dazu: Es existieren unzählige Berichte von DDR-„Ärzten“ über die dramatischen Nebenwirkungen dieser „Gaben“. Kein Grund also, hier irgendwas kleinzureden.

    Springstein: Meine Anmerkung bezog sich auch auf seine Karriere nach 1990, auch da lief nichts ohne Doping.

    Kummer: bei Team Telekom.

  14. Testosteron heißt das. Und mit Eigenblut hast Du recht, Walter. Das war nicht direkt verboten. Ja bis vor ganz kurzer Zeit.

  15. „Wie der Sport sich selbst und andere betrügt“

    Vortrag von Prof. Dr. Helmut Digel bei Symposion „Doping und Recht“
    13.02.2009 – 14.02.2009 Bad Boll

    weitere Referenten u.a.

    Dr. Christoph Bergner – Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Berlin
    Christoph Frank – Oberstaatsanwalt, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes
    Prof. Dr. Peter König – Richter am Bundesgerichtshof
    Klaus Riegert – MdB, sportpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, Göppingen

    http://www.ev-akademie-boll.de/index.php?id=142&tagungsid=521009

    Detailprogramm
    http://www.ev-akademie-boll.de/tagungen/details/521009.pdf

  16. Tja, und noch ein Doping-Symposium, das viel Geld kostet. Ich bin relativ gelangweilt von der uninspirierten Zusammenstellung. KEINE der Kernfragen der vergangenen Wochen wird tangiert. Das ist halt ein Problem, man sollte schon ein bisschen im Thema stecken, wenn man so etwas organisiert. Digel schlüpft jetzt offenbar in eine Rolle als Elder Statesman, die funktioniert aber nicht, wie ich finde. Warum sie/es nicht funktioniert, darüber ist ja hier ein bisschen zusammengetragen worden.

  17. Meine vollste Zustimmung! Ohne Frage, Digel spielt als Wissenschaftler in diesem fortwährenden Diskurs eine beachtenswerte Rolle. Jedoch ist es ihm bis heute nicht gelungen seine Erkenntnisse in der breiten Öffentlichkeit zu platzieren. Sorry Jens, ich kann es nicht lassen und weise gern auf einen früheren Beitrag von Dir hin, der im zweiten Absatz die Rolle von Digel treffend beschreibt, früher wie heute.

    https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0823/sport/0036/index.html

  18. Nur eine Idee,hat ihn die deutsche Presse zu Fall gebracht,die ja selten internationale Entwicklungen mitbekommt oder falsch einschätzt?

    Gibt es vielleicht Parallelen zwischen internationaler Antidopingpolitik und internationaler gesellschaftlicher Entwicklung?

    Muß man ein Land in die Steinzeit zurückbomben,weil die Demokratie zu lange auf sich warten läßt?

    Braucht man nicht mehr Geduld? Frankreich hat die z.B. und führt nicht Einzelpersonen wie einen Tanzbär zur Belustigung vor.

  19. Finde ich alles sehr komisch, Walter. Frankreich hat Geduld. Ja. Eine irritierende. Auch die Assoziation von Steinzeitbombern und Dopingaufklärung kann ich nicht nachvollziehen. Und Digel, nun ja, der hat sich selbst „zu Fall gebracht“, wie sie formulieren. Das finde ich schon.

  20. Jens, ich glaube Walter zu verstehen, auch wenn er wahrscheinlich überhöht. Wir sollten nicht mit dem Verständnis der Steinzeit Dopingsünder jagen.
    Intelligentes Doping bedarf nicht nur intelligenter Tests, sondern auch einer intellgenten Auseinandersetzung von Moral und Ethik im Sport. Und dazu kenne ich leider nur wissenschaftliche Betrachtungen für einen kleinen Kreis sowie Arbeiten junger und gestandener Akademiker. Wo wir wieder bei Prof. Bette, Prof. König, Prof. Krüger, prof. Schänzer und anderen wären.
    Es mutet schon befremdlich an, wenn – wie Sie selbst kritisch bemerken – ein Anti-Doping- Event auf das andere folgt und man sich keine Zeit zu irgendwelchen follow- ups nimmt. Diese Betriebsamkeit stimmt mich eher nachdenklich als beruhigend. Sie lenkt mehr ab als dass sie hilft, das Übel an ihren Wurzeln zu packen.
    Die Bonner Doping-Konferenz, die ich leider verpassen musste, hat doch ein sehr verständliches und strukturiertes Papier produziert, was sicher die Grundlage für weitere Schritte geben könnte. Aber leider gefehlt, Schweigen im Walde. Oder Jens, wissen Sie da mehr ?

    http://www.sport-transparency.org/?p=1988
    (Tut mir Leid, ich kann den link nicht anders reinstellen. Was mache ich falsch ?)

    Wer hier mit dem Konsens zögert, der kann das sehr komplexe Thema nicht verstanden haben. Meine Kritik geht in diesem Kontext mehr zum fehlenden Pragmatismus. Wenn die Selbstdarstellung einiger weniger hinter dem Versuch, gemeinsame praktische Schritte zu beginnen, zurück gestellt werden könnte, sehe ich hier sogar eine Chance. Die Macher müssen unbedingt ihre Aufgabe erhalten, und zum Verständnis des Dopingsproblems in der Öffentlichkeit und zur Lösung im Sport beitragen. Die Einladungspoltik sollte mehr zur Entakademisierung der Diskussion beitragen. Übrigens sind nicht nur erfolgreiche und evtl.ertappte Sportler, Sport- und Gesundheitswissenschaftler sowie Sportjournalisten Teil des mit dem Thema befassten Personenkreises. Solche Veranstaltungen sollten auch Platz für Ehrenamtliche, Nachwuchstrainer und – warum nicht ? – für Fans haben. Die wissen manchmal mehr als man glaubt.
    Der BMI kann ja auch weiterhin Geld für derartige Events geben. Praktische follow-ups, ich meine nicht nur Referentenvorlagen, in seiner Verantwortung kann das allerdings nicht ersetzen. Mal sehn, was diesmal Dr. Bergner zu sagen hat.

    Ein weiterer Gesprächskreis (mit welcher Wirkung ?) trifft sich hier:

    http://www.sport-transparency.org/?p=530

  21. Herbert, ich denke, dass ich das verstehe. Wir sind da gar nicht weit voneinander entfernt. Auf dem verlinkten Forum in Stuttgart war ich auch, habe damals einen Abstecher von Bad Boll (ein Peking-Seminar von Evangelischer Akademie mit dem VDS) gemacht. (Die Sportfreunde von Sport Transparency übertreiben ein bisschen, ihre Überschrift suggeriert, Sie hätten damit zu tun gehabt, dabei waren sie/oder einer/ einfach nur anwesend, wie ich auch. Aber das nur am Rande.)

    Ich bin ein bisschen in Eile und mit anderen Themen befasst, was sich auch in den nächsten Tagen nicht ändern wird. Kurz nur: Sie reden von einem anderen, breiteren Ansatz. Ich denke, etwas in dieser Richtung habe ich, haben einige Kollegen, vor drei Jahren mit der Gründung des sportnetzwerks probiert, nämlich zunächst einmal – ungeachtet unterschiedlicher Ansichten – Journalisten, Wissenschaftler, Funktionäre, Sportpolitiker und interessierte Konsumenten zusammen zu bringen. Das ist mal weniger, mitunter gar nicht so schlecht gelungen. Aber das nur am Rande, das wäre ein eigenes Thema wert.

    Journalisten ist ja die Möglichkeit gegeben, sich jederzeit einzumischen. Und, auch wenn das jetzt großkotzig klingen mag, ich sehe im Grunde die Arbeit von Journalisten (Udo Ludwig, Herbert Fischer-Solms, Thomas Kistner, Ralf Meutgens, Hajo Waldbröl, Michael Reinsch, Hajo Seppelt, Grit Hartmann u.a.) als entscheidend dafür an, dass wir uns an dem Punkt befinden, an dem wir uns befinden. Das ist nicht befriedigend, man ist immer wieder schockiert, wie sich die Argumente jahrzehntelang wiederholen – und dennoch ist das Thema im öffentlichen Bewusstsein, ganz anders als Anfang der neunziger Jahre. Ohne diese verrückten Typen, die letztlich auch die Recherchen und Ideen von Franke, Donati, Treutlein, Bette und anderen unters Volk bringen, würden wir uns noch gedanklich in der Doping-Steinzeit befinden. That’s for sure. (Natürlich müssten mehr Journalisten und auch mehr Wissenschaftler genannt werden – aber über einen langen Zeitraum betrachtet nicht sehr viel mehr. Und noch eins: Manche werden gar nicht in dieser Aufzählung mit anderen genannt werden wollen, weil es zwischen ihnen zu viele Unstimmigkeiten gibt, aber so ist das Leben.)

    Was ich sagen will: Es ist nicht so einfach, immer nur zu sagen: die Journalisten sind zu böse, zu aggressiv, umreißen das Thema nicht. Zum einen handelt es sich nur um einen kleinen Kreis von Journalisten (der ist mit der sportnetzwerk-Diskussion deutlich größer geworden), die meisten tangiert das Thema immer noch kaum. Zum anderen sind diese Journalisten, imho meist ungleich besser informiert als viele prominente Diskutanten aus Sport, Politik und Juristerei. Im Detail haben die Letztgenannten natürlich den Vorteil der Akten, Unterlagen und Intimkenntnisse; aber viele haben eben auch nur Funktionen oder eine juristische Ausbildung, und ihnen entziehen sich Kenntnisse, die man sportpolitisch in einem langen verzehrenden Kampf gewonnen hat. Da sind sie sehr oft so erschreckend ahnungslos wie viele Organisatoren, die über Stiftungen, Bundesmittel, Sponsoren etc. zwar viel Geld zur Verfügung haben, denen es aber an Sachverstand fehlt – und die immer wieder nur im so genannten Establishment Ausschau halten nach Diskutanten. Dann kommen eben, wie sie sagen, akademische und juristisch geprägte Diskussionen zustande, die der Wirklichkeit, dem öffentlich Verhandelten (auch Journalisten sind nicht nur an Einzelfällen interessiert, wie der von mir hoch geschätzte Herr Bette gern behauptet, sondern legen Zusammenhänge dar wie sonst kaum eine andere an dieser Diskussion beteiligte Gruppe) weit hinterher hinken.

    Ich weiß, das ist auch nur eine verkürzte Betrachtung, aber ich kann jetzt leider keinen Roman schreiben. Kurzum, ich habe das weiter oben schon mal gesagt: Viele dieser Foren, wie etwa die Veranstaltung in Bad Boll im Februar, sind im Grunde ärgerlich, weil nicht mal Ansätze einer angemessenen Diskussionskultur und Vernetzung zwischen den Gruppen geboten werden. Meist darf ja beispielsweise ein Journalist als Alibi herhalten (Hajo Seppelt oder Herbert Fischer-Solms werden mir das sicher nicht übel nehmen), oft auch ein Dopingopfer (dieses Ticket geht meist an Ines Geipel), das war’s dann aber auch. Letztlich diskutiert (nein, das ist nicht wirklich eine Diskussion, es sind einzelne Monologe) ein Grüppchen von Juristen, Politikern und Funktionären, das in ähnlicher Zusammensetzung (je nach Amtslage) seit Jahrzehnten so diskutiert und für das Dilemma mit verantwortlich ist. Das bringt überhaupt nichts. Es ist eine Frage von Macht und Geld und fehlendem Willen, wirklich zu versuchen, Knoten aufzulösen und halbwegs ehrliche Ansätze zu verfolgen.

    Erstaunlich ist für mich immer wieder, und erschreckend, das Sportler und Trainer kaum etwas dazu zu sagen haben, im Grunde nur, dass ihnen die Diskussion zu viel, zu fehlgeleitet und zu böse ist, und dass sie sich über angebliche mediale Hysterie und die unmenschlichen Anforderungen der Dopingkontrolleure beklagen. Einfach nur peinlich und entlarvend, wie ich finde. Aber okay, ich bin ja unverbesserlicher Optimist, Gelegenheitsnetzwerker und außerdem von der, nun ja: demokratischen Potenz (nicht jedes Wort, das hier schnell runtergeratzt wurde, auf die Goldwaage legen, bitte) dieses Internet-Dingens überzeugt, weshalb ich glaube, dass sich da parallel eine sehr gewaltige Diskussion entwickeln könnte, an der jeder teilhaben kann, wenn er denn will. Letzteres ist nun mal Voraussetzung. Wir sind da erst am Anfang, mal sehen, was noch geht. Was nicht mehr geht, wie ich finde: Derlei langweilige Panels, wo man die Probleme (jenseits juristischer Bedenkenträgerei) nicht wirklich benennt und sich gegenseitig auf die Schultern klopft.

  22. Jens, dann danke ich erst mal für die prompte Antwort. Heute habe ich zwar mehr Zeit als sonst. Aber eigentlich auch zu wenig. Diese panels und workshops, conferences, etc. stehen ja leider in einer sonderbaren, fast verhängnisvollen Tradition. Benötigt wird schon das regelmäßige Verständnis und up-daten der Meinungen und Positionen, jedoch nicht um ihrer selbst Willen und -noch schlimmer- jenseits der Existenzbedingungen des eigentlichen Problems.
    Ja, und es stimmt schon, wenn immer wieder die Gleichen brain-storming exerzieren, wird der Erkenntnisgewinn für die Allgemeinheit auch nicht größer. Namen will ich mal lieber weglassen. Und außerdem entsteht der Eindruck, es gibt schon eine Anti-Doping-Elite, die alles weiß und richtig sieht und den anderen wird gestattet zuzuhören.
    Also, die Breite des Austausches macht es. Jeder sollte sich nur als Teil des Problems oder des Anti-Doping-Kampfes sehen und nicht sich und seine Sichtweise über die der anderen erheben.
    Ich gebe Ihnen Recht, dass das öffentliche Bewußtsein stärker als je zuvor für das Problem geschärft ist. Damit meine ich aber nicht, dass es auch besser in der Öffentlichkeit als bisher verstanden wird. Da bin ich sehr skeptisch. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber das lange Beharren auf der Einteltäterthese hat mehr Schaden als Aufklärung erzeugt.
    Was ich gut finden würde, wenn es mal gelänge, eine Veranstaltung zum Problem mit einem aktuellen internationalen Wettkampf zu koppeln. Also z.b. aus Anlaß der 12. IAAF Leichtathletik-WM Berlin 2009 laden der Gastgeber, die IAAF und die WADA vom 21. zum 23. August 2009 zum Thema „Doping – Alltag oder Ausnahme im Leistungssport ? “ nach Berlin ein. Zum Abschlußsoiree sind alle Weltmeister herzlich eingeladen. Oder in Paris findet ein ähnlicher Event zum Abschluß der Tour de France statt, das die ASO, die UCI ,die WADA gleichermaßen hosten. Die Träger der 4 Wertungstrikots und ihre sportlichen Leiter sind herzlich eingeladen und unterzeichnen das Abschlußdokument. War das zu frech oder eher zu utopisch ?

  23. Ich weiß nicht, auf jeden Fall wären sie dann auch wieder nur unter sich – und das gefällt uns doch beiden nicht, oder?

  24. Die Teilnehmer der anti-doping-events müssten dann schon in unserem Sinne repräsentativ sein.
    Dazu kämen dann immer nur die soeben gekürten Sieger. Ich fand meine Idee eigentlich gut. Nun ja, never give up. ;)

  25. @JW,ich finde das alles überhaupt nicht mehr komisch.Vor allem den deutschen Sonderweg zur absoluten Sauberkeit im Sport.
    Was ist an der Assoziation so schwierig? Müssen wir den Sport total zerstören,um gegen Doping zu kämpfen?
    Frankreich irritiert mich gar nicht,ich nehme mal an,denen waren die vielen Toten Mitte der 90iger zu viel.Sie konnten nicht mehr zu schauen,dass z.B. die Radprofis über Nacht auf den Hotelfluren herumliefen,weil das Blut so dick war.Von Donati habe ich gelernt,dass dies keineswegs nur den Radprofis so ging oder sind sie in der Leichtathletik noch so stark wie früher?Ein Virenque tritt trotzdem noch zusammen mit seinem Staatspräsidenten auf.Dort sind sich die Konstellationsakteure rund ums Doping einig-sie zerstören nicht den Sport,um gegen Doping vorzugehen.
    Mir geht es also nur um die Vorgehensweise gegen Doping!
    Hinter der deutschen Vorgehensweise können sich die Akteure wunderschön verstecken.
    Wir haben ja genügend Kommissare und Richter im Ruhestand,gründen wir noch mehr Kommissionen oder veranstalten noch mehr Symposien!Nebenbei finden wir natürlich 4. und 5. Plätze sehr enttäuschend.

    Weg und Geschwindigkeit ist international festgelegt,wer sich weitergehend äußert,fliegt raus.Mehr ist Herrn Digel nicht passiert.

    Funktionäre und Medien stecken auf der ganzen Welt tief mit drin,vorführen lassen will sich aber keiner.
    Schönes Intervieuw:
    „Rundschau:

    Wollen die Leute die Dopingsünder nicht mehr sehen?

    Udo Krapf:

    Nein, diesen Schluss darf man nicht ziehen. Es gab Stammgäste bei den Rennen, auch Mitarbeiter der Organisation, die gesagt haben: Es reicht. Aber glauben Sie mir, wenn Jan Ullrich heute starten würde, gäbe es neuen Zuschauerrekord. Es gibt noch immer mehr Menschen, die ihn sehen wollen als umgekehrt.

    Rundschau:

    Aber was werfen sie ihren Verbandsoberen vor?

    Krapf:

    Dass sie in der Angelegenheit weggetaucht sind, als sei ihnen die Zukunft dieser Sportart mit der großen deutschen Tradition egal. Im Kampf gegen Doping haben wir Radsportler Präventionsmaßnahmen ergriffen, die vielleicht zu den besten der Welt zählen. Bringt unser Verband das in die Öffentlichkeit? Nein, nichts, einfach nichts.

    Rundschau:

    Sie gehen auch mit den Medien hart ins Gericht.

    Krapf:

    Zum einen zählt gerade in der Öffentlichkeit nur der Sieg. Wer bei einer WM Fünfter wird, kommt in der Berichterstattung nicht vor. Damit haben sie über Jahre hinweg dem Doping Vorschub geleistet. Zum anderen wird völlig einseitig nur auf den Radsport eingeprügelt. Dabei ist längst bekannt, dass im Grunde in allen Sportarten, ja selbst im Freizeitsport, gedopt wird.“
    http://www.abendblatt.de/daten/2009/01/26/1024130.html

  26. @Walter und die Sportjournalisten, die hier mitlesen:
    Vielleicht wäre ein Interview mit einem der vermeintlichen Peking-Versager („4. und 5. Plätze“) interessant – von Sportlern knapp außerhalb der Medaillenränge, die sich für noch höheren sportlichen Erfolg ihre Gesundheit nicht mit Doping ruinieren wollten und die bei positiven Nachtests der vor ihnen Platzierten nolens volens nachträglich zu Medaillengewinnern würden. Wenn man sich die Ergebnislisten anschaut, dann gibt es einige Deutsche, die hinter notorischen Doping-Nationen (Weissrussland, Russland, etc.) gelandet sind. DIE wären bei positiven Nachtests die Doping-Opfer! Denn man hat sie unwiderruflich des Erlebnisses beraubt, in Peking auf dem Treppchen zu stehen.
    Auf WM-Ebene hat es solche Fälle schon gegeben und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich irgendeinem der viertplatzierten „Versager“ eine nachträgliche Medaillenvergabe wünschen soll. Wäre ich so ein solcher Betroffener und selbst auch sauber, dann würde ich dem erwischten Doper den Hals umdrehen, ganz ehrlich. Oder dessen Trainer. Am liebsten beiden.

  27. Ja, Ralf, Anno Hecker nimmt ein heißes Eisen in die nackte Hand. Genau an diesem Problem mogelt sich der vereinte deutsche Sport seit 19 Jahren vorbei. Anstatt sich der Dopingvergangenheit in Ost und auch W e s t zu stellen, ist die Auseinandersetzung von taktischen Spielchen, Vertuschung und Verdrängung geprägt. Dabei wissen wir nicht nur seit Dressel, Justen und Reichenbach ,dass auch und nicht unmassgeblich im Westen (von den USA ganz zu schweigen)gegen die Regeln des fairen Sports verstoßen worden ist. Willis „Das Gespräch ist beendet“ ist immer noch gegenwärtig. Keiner hat den A…. in der Hose und führt die Diskussion ehrlich und offen zu Ende. Richthofen wollte es anscheinend versuchen und ist abgeblitzt. Und wer will sich schon Pension und Meriten und die Freunde verderben.
    Und so tragen wir an unserem gemeinsamen Erbe bis zum bitteren Ende und versuchen es lediglich mit Doping- und Evaluierungskommissionen hinauszuschieben.
    Ich glaube, dass wollte auch @ Walter uns so sagen. Ich hoffe nicht, dass es ihm die Sprache verschlagen hat. Die FAZ ist ihm beigestanden. So schief kann er also nicht liegen.

  28. Anno Hecker packt das heiße Eisen an, wird er etwas bewirken? Im Prinzip ist spätestens seit 1976/77 alles klar, für die Insider schon seit 1969 (Atikel von Brigitte Berendonk in der „Zeit“) bzw. seit 1970 (Artikel von Robert Hartmann in der FAZ), für andere noch früher (vgl. de Mondenard). Das Sportsystem hat schnell gelernt, dass Verdrängen, Verschweigen, Sich-Tod-Stellen, hartnäckig die Einzelfalltheorie vertreten (Individualisierung der Dopingproblematik nach Bette)und Kritiker rausdrängen (Dropout-Problematik) zunächst einmal „am besten“ weiterhilft. Dopingfreunde wurden gehätschelt, Dopinggegner wie Kofink oder Munzert rausgemobbt. Stellen und Nominierungen gingen in erster Linie an Dopingfreunde, Dopinggegner schauten in die Röhre – wer spricht heute über deren entgangene Chancen, etwa der Herr Killing oder die 20 Athleten in ihrem unsäglichen Brief zum Fall „Goldmann“? Wer bekommt bis heute Auszeichnungen, Einladungen, Registrierung auf Ehrengastlisten etc. – etwa die Dopinggegner?
    Wer die Vergangenheit verdrängt, wird immer wieder von ihr eingeholt. Weitere Klarheit wurde für Westdeutschland mit der Untersuchungskommission von 1976/77 geschaffen (Vorsitzender Ommo Grupe), mit der Reaktion von DSB und DLV eines Schweigegebots für das Dopingthema. Leute wie Eberhard Munzert, der nach dem Tod von Birgit Dressel aufräumen wollte, wurden aus dem System rausgemobbt (laut Aussage von Munzert unter Federführung des Juristen und verurteilten Dopers Spilker, heute Vizepräsident und Rechtswart des LSB Thüringen)und des Stuttgarter Polizeipräsidenten Sturm.
    Die Untersuchungskommissionen von Reiter und von Richthofen (1990/91) war zwar ergiebig, ihre Ergebnisse wurden kaum beachtet, denn „Einzeltäter“ wie der DLV-Präsident Helmut Meyer hatten das DDR-Know-Hof spätestens seit Anfang 1990 an Land gezogen in Form von Referenten bei Lehrgängen und der Anstellung von Trainern, denen dann eine „unabhängige“ Juristenkommission eine „günstige Sozialprognose“ ausstellte – woher wußten Leute wie Meyer schon Anfang 1990 wer die relevanten Forscher und Trainer der ehemaligen DDR waren?
    Der DDR-Dopingarzt Riedel wurde nach seiner Flucht zunächst in Paderborn versorgt, dann zum Professor in Bayreuth gemacht (prominente Personen waren da jeweils am Werk, es galt schließlich westdeutsche Medaillenchancen zu erhöhen, Gutachter u.a. der Freiburger Sportmedizinpapst Keul und ein weiterer Sportmedizinpapst, der noch eute eine wesentliche Rolle spielt).
    Und immer nach dem Motto „weiter so, Kopf in den Sand und so tun als ob nichts sei“ wurde weitergewurstelt. Jüngere Leute, die nachkamen, wurden erfolgreich „sozialisiert“ frei nach dem Olympiasieger Rolf Dannenberg 1984 „Ethik und Moral, was soll das Gebrabbel und Gesabbel, es geht doch um Medaillen“ – Bette und Schimank nennen das „Anpassung durch Abweichung“. Und den engagierten Vertretern des sauberen Sports an der Basis in den kleinen Vereinen wurde das Lied vom „sauberen Sport“ und vom „Ehrenamt“ gesungen (was für schöne Sonntagsreden wurden bei Verbandstagen geschwungen).
    Längst ist bekannt, dass der Wille zu Konsequenzen angesichts des umfangreichen bereits vorliegenden Wissens zum Doping in Ost und West in der Vergangenheit weitestgehend fehlt. Warum sollte auch nach 4 Jahrzehnten weitgehender dopingbegünstigender Inaktivität sich etwas ändern, warum sollten die Mittäter und Mitwisser der früheren Jahre jetzt plötzlich auspacken, nur weil ein 500.000Euro-Forschungsprojekt ausgelobt ist. Sollte das Bundesinstitut nun plötzlich die Unterlagen früherer Sportmedizinforschungsprojekte, die man leicht als Dopingforschung bezeichnen kann, zur Einsicht freigeben? Sollten der DOSB und Fachverbände plötzlich Unterlagen aus früheren Jahren wiederfinden oder z.B. die Akten der verschiedenen Untersuchungskommissionen für die Forschung (und auch für Journalisten) freigeben? Sollten plötzlich Akteure in das Stadium der Altersweisheit gelangen und Verantwortung für ihr früheres Tun übernehmen? Auch dafür, dass der Spitzensport immer wieder als Modell/Vorbild für den Schulsport hingestellt wurde (und zugleich wurde die Relevanz des Schulsports verringert): Wer’s glaubt, wird seelig. Die Mächtigen der früheren Jahre sind immer noch mächtig oder haben mächtige Schüler, die bei Stellenbesetzungen kräftig mtimischen und dafür sorgen, dass die „richtigen“ Personen Stellen bekommen.
    Oder wie soll das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, das selbst einige Leichen im Keller haben dürfte, für eine sinnvolle Vegabe eines solchen Forschungsauftrags sorgen können? Wer hat 2002 dafür gesorgt, dass Leute wie Clasing (Mitarbeiter von Klümper) oder Huber (selbst Doper und Mitarbeiter von Keul) an maßgebliche Stellen in der NADA gelangten? Und sind alle Altlasten in den Gremien der NADA wirklich „entsorgt“? Ich wüßte da zumindest noch einen, dessen Namen ich nicht nennen darf, da ich sonst eine Klage am Hals hätte (ich meine nicht Armin Baumert).
    Fragen über Fragen. Wenn wir überhaupt eine Chance auf eine etwas bessere Zukunft haben wollen, dann über verstärkte Präventionsbemühungen, die Unterstützung hierfür fällt aber bisher knapp aus.
    Augen zu und durch – das Motto wird – leider – auch weiterhin Bestand haben. Wie sagte Werner franke 1990: Wer nichts verändern will, setzt Kommissionen ein. Statt einer Kommission wird heute ein Forschungsprojekt ausgelobt (und vergeben durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, dessen eigene Rolle bei der Dopinggeschichte dann auch zu klären wäre) – welche Konsequenzen sollen daraus abgeleitet werden???

  29. Lieber Ralf,

    das Buch von Budzisch, Wuschech und Huhn hat als wesentliche Grundlage den Vortrag von Andreas Singler und Gerhard Treutlein im Februar 1998 in Potsdam. Die drei Autoren haben im wesentlichen die von Singler und Treutlein in ihrem Vortrag genannten Veröffentlichungen genommen und daraus ein Buch gemacht, ohne Hinweis darauf, woher sie ihr Wissen zu diesen Veröffentlichungen hatten. Na, einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit hatten sie zum Glück ja nicht.

  30. @ Gerhard, also ist die der Öffentlichkeit vorgeführte Dopingaufklärung Heuchelei und diese Heuchelei ist Teil der offiziellen Sportpolitik ?
    So etwas wie deinen Beitrag habe ich lange nicht gelesen. Das wäre doch etwas für die aufrechten Aufklärer in der SZ;-)

  31. @ Gerhard:

    Danke für Deinen Hinweis! Gibt es denn dann auch Veröffentlichungen von Singler und Treutlein zur BRD-Dopingvergangenheit? Vielleicht dieses hier, das ich bislang leider noch nicht gelesen habe?

  32. @Herbert,da sind wir einer Meinung,oder ist das nur eine Frage? Ich bin mir aber nicht sicher,wer von den Akteuren in der gesamten Konstellation wieviel weiß.
    Ich tippe mal, manch einer von den Journalisten weiß sehr wenig oder tun sie nur so?
    @Gerhard,es sollen bestimmt keine Konsequenzen abgeleitet werden,sonst hätten wir ja nicht so viele Kommissionen.In diesem Punkt bin ich mit Werner Franke einer Meinung aber nur in diesem Punkt.

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  36. Dieser Beitrag bringt mich dann doch dazu, endlich mal seine Lobpreisung auf Schäuble zu bloggen. Morgen oder heute Nacht. Mal sehen, ob sich der Empörungsfaktor noch steigern lässt :)

  37. Hat ein Athlet jedoch Skandalqualität, ist er entsprechend bekannt, stimmen alle Medien für kurze Zeit in ein Skandalkonzert ein, in dem auf vielen Instrumenten stets dieselben Melodien gespielt werden.

    Alles, was beim letzten Skandal schon thematisiert worden ist, wird redundant wiedergegeben. In einer Welt der Vergesslichkeit hat sich niemand an das zu halten, was er einstmals ausgedrückt hat. Altes kann als neu gelten, Kopien werden mit dem Original verwechselt, von einem Beitrag zur Lösung des Problems kann dabei kaum die Rede sein.
    ….

    Folgenlos war der Anti-Doping-Kampf jedoch nicht. Der Hochleistungssport hat sich dadurch gravierend verändert, die Menschenwürde des sauberen Athleten ist in Frage gestellt. Seine Privatheit wird dadurch bedroht, und das, was über den Hochleistungssport kulturell zum Ausdruck gebracht wird, hat entscheidend an Wert verloren. Von einer pädagogischen Vorbildfunktion des Spitzensports kann nur noch selten gesprochen werden, ethisch und moralisch befindet sich der Hochleistungssport in einem Prozess der Selbstauflösung.

  38. @ Walter: Sie sollten schon dazu schreiben, dass es sich um ein Zitat von Digel handelt. Und: Was sagt uns das? Was hilft es in der aktuellen Auseinandersetzung? Was tut der Herr Digel dagegen? Was hat er erreicht in all den Jahren? Was bleibt von seinen bahnbrechenden Initiativen? Gab es welche? Ich meine natürlich, außer, dass er Schäuble die Ehrendoktorwürde verpasste.

  39. Pingback: Doping und die Medien : jens weinreich

  40. JW,
    ich wollte nur erinnern;-)
    Herr Digel kann nichts mehr machen,hätte aber Chef werden können.Nun muß er zuschauen,was seine Kollegen machen.International gehen die Uhren anders aber das hatten wir schon.
    Sie interessiert nicht,wie es die Franzosen machen und wenn der Sport stirbt ist Ihnen auch egal,Hauptsache sauber,wie auch immer das gehen soll.
    Ich habe nur ein bißchen gelesen weiter oben;-)

  41. Die im obigen Sportgespräch von Rolf Järmann kurz angerissenen Gedanken zu Antidoping-Massnahmen im Radsport sind bereits in dieser Petition aus dem Jahre 2007 enthalten, die er massgeblich initierte und entwarf.

    Die Petition wurde mit den gesammelten Unterschriften den Sportredaktionen wichtiger deutscher Tageszeitungen sowie ihre englische Übersetzung dem UCI und der WADA übergeben. Weder WADA noch UCI reagierten. Lediglich eine deutsche Tageszeitung fand es wert, diese, zum großen Teil von Radsportfans und Jedermann-Radsportlern, jedoch auch von ehemaligen Radprofis unterstützte Initiative, in einem Interview mit Rolf Järmann zu erwähnen.
    Wahrscheinlich passte die Fan-Initiative damals den großen Blättern nicht ins Konzept. Aktuell sind sowohl ihr Anliegen als auch ihre Vorschläge von Bedeutung, sind wir doch kaum einen Schritt weiter gekommen. Bedenklich bleibt nur, dass es 2007 kaum Interesse der Sportmedien an einer derartigen Fan-Aktion gegen Doping im Radsport gab.

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